Ach, München! Schriftsteller Jan Weiler über die Hassliebe zu seiner Wahlheimat

Dass er vom Rhein an die Isar zog, hatte rein berufliche Gründe, dass er dort hängen blieb und nicht wieder loskommt, hat rein emotionale. Der Schriftsteller Jan Weiler über bayerisch-texanische Wurschtigkeit, italienisches Licht und seine Liebe zum Münchner Schneckentempo…
Text Jan Weiler
Datum19.08.2025

Als ich vor 31 Jahren nach München zog, kam ich nicht ganz freiwillig. Ich hatte den Leiter der Deutschen Journalistenschule zuvor gefragt, ob er sich vorstellen könne, den Sitz der Schule nach Düsseldorf zu verlegen. Er lehnte dies ab und sagte, ich würde mich für die Ausbildung an seinem Institut schon nach München bemühen müssen. Also bin ich im September 1993 gekommen. 

Der Kulturschock war zunächst extrem, was auch damit zusammenhing, dass ich mit Mitte 20 noch nicht viel von der Welt gesehen hatte. Wäre ich damals mit Stammesriten anderer indigener Völker vertraut gewesen, hätte mich die bayerische Lebensart nicht so überfordert. Zu dieser gehört eine gewisse Grobheit, gemischt mit einer schwer verständlichen Ungeduld. In Münchner Geschäften und Lokalen habe ich bis heute manchmal den Eindruck zu stören. Es fühlt sich bisweilen so an, als halte man Kellnerinnen oder Verkäufer davon ab, etwas viel Wichtigeres zu tun, als ein Getränk zu bringen oder ein Hemd zur Anprobe.

„Das lokale Selbstbewusstsein stiftet die Einheimischen dazu an, Zugereiste andauernd zu verbessern”

Das Oktoberfest wird bei Münchnern „die Wiesn" genannt – alles andere ist Schmarrn.

Nachdem ich ungefähr eine Woche in München lebte, wollte ich Frikadellen zubereiten und ging in eine Bäckerei, um ein altbackenes Brötchen dafür zu kaufen. Ich sagte, dass ich gerne ein altes Brötchen hätte, um Frikadellen zu machen. Die Frau hinter der Theke sagte: „Des hoaßt Fleischpflanzerl.” Ich sagte: „Wie dem auch sei, jedenfalls brauche ich ein altes Brötchen.” „Homma net“, sagte sie. „Mir hom nur Semmen.“ „Ach so“, sagte ich. „Gut. Dann nehme ich eine alte Semmel.“ „Mir hom nur frische Semmen“, knurrte sie. „Okay, dann nehme ich eben eine frische Semmel.“ „Die san aus.“ Das gefiel mir sehr gut, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil die Verkäuferin gar nicht komisch sein wollte. Die sind hier in München einfach so. Ich habe ein Jahr gebraucht, um die Wendung „Woinsatütnhom?“ erstens zu verstehen und zweitens als freundliches Angebot aufzufassen. Irgendwie klang das immer eher wie eine Drohung.

Das lokale Selbstbewusstsein stiftet die Einheimischen dazu an, Zugereiste andauernd zu verbessern. Es heißt nicht „Oktoberfest“, sondern „Wiesn“. Und wer dazu „Wiese“ sagt, bekommt eine Backpfeife, vulgo „Fotzn“. Das ist natürlich alles Folklore, aber man muss festhalten, dass der Münchner zwar gerne auf Fehler hinweist, selbst aber das meiste so falsch ausspricht und so inkonsequent benennt, dass hier eigentlich niemand genau weiß, ob es der, die oder das Butter heißt oder der, die oder das Spezi. Darin scheint ein sympathischer und klassenübergreifender Hang zur Anarchie auf, der im Widerspruch zur Gemächlichkeit der Bevölkerung steht und in dem Ausspruch „Mia san mia“ gipfelt, der zwar auch Folklore ist, aber stimmt. 

Diesen Lokalpatriotismus, der sich nicht wie in Düsseldorf bloß gegen direkte Nachbarn, sondern gegen Preußen (also die ganze Welt außerhalb Bayerns) richtet, habe ich zwar nie verstanden, aber ich mag ihn irgendwie, weil ich ihn immer etwas frech und exotisch fand. Letzteres auch deshalb, weil es praktisch keine Münchner in der Redaktion gab, in der ich dann viele Jahre arbeitete. Unter den Kolleginnen und Kollegen befanden sich ein Dortmunder, zwei Bonner, ein Kölner, gleich mehrere Krefelder und eine Bochumerin. Auch außerhalb der Arbeit lernte ich anfangs komischerweise mehr Menschen kennen, die aus Nordrhein-Westfalen stammten, als Münchner. Dennoch assimilierte ich mich recht schnell, nachdem ich in München eine Rheinländerin heiratete und unsere beiden Kinder hier geboren wurden.

„Münchner sind wie Texaner. Ob man nun als friesischer, hessischer oder japanischer Preuße zuzieht, ist ihnen herzlich egal”

Der Münchenplatz ist ein Ort des gesellschaftlichen Zusammenseins in München. Wer hierherkommt, ist den Münchnern eigentlich recht egal, so Weiler.

Man kommt schnell zurecht mit München, und ich glaube, das liegt daran, dass die Stadt übersichtlich gegliedert ist, ein richtiges Zentrum hat und der gesellschaftliche Druck so gering ist. Münchner sind wie Texaner. Ich lernte mal einen kennen, der mir gleich nach dem Vorstellen erklärte, dass er mich nicht fragen werde, woher ich sei. Wenn ich Texaner sei, werde ich es ohnehin von selbst sagen. Und wenn ich kein Texaner sei, interessiere ihn nicht, woher ich komme. Münchner sind auch so. Ob man nun als friesischer, hessischer oder japanischer Preuße zuzieht, ist ihnen herzlich egal. 

Diese weitgehende Dünkelfreiheit bei gleichzeitigem Wurschtsein finde ich in München sehr angenehm. Sie definiert auch den Unterschied zu den anderen drei Millionenstädten unseres Landes. In Berlin arbeiten sie sich seit Jahrzehnten an der schwäbischen Herkunft ihrer Hausbesetzer und Medienschaffenden ab; in Hamburg würden sie Zugereiste auch dann nicht integrieren, wenn diese dafür zum Protestantismus konvertierten oder Mitglied beim HSV würden. Was das größere Opfer darstellte. Und die Kölner umarmen zwar jeden, aber nicht fest. Und vergessen dich nach zehn Minuten wieder.

„Alle paar Jahre kommen mal andere Biere in Mode. Dann haben plötzlich alle Tegernseer in der Hand. Oder Flötzinger. Oder Chiemseer”

München ist eine Stadt der Großbrauereien und Biere – welches davon gerade angesagt ist, ändert sich ständig.

Wie in Köln sind sie in München wahnsinnig stolz auf ihr Bier, welches meistens von sechs Großbrauereien stammt, die sich weitgehend im Besitz internationaler Konzerne befinden. Die Hervorbringungen von Hacker-Pschorr, Spaten, Löwenbräu, Augustiner, Paulaner und Hofbräu kann man in einem Blindtest kaum auseinanderhalten, gemein ist ihnen neben der glatten Süffigkeit, dass sie allesamt grobe Schädelspalter sind, ähnlich wie das Bier in Köln. Raffinesse oder Einzigartigkeit ist auch von einem Münchner Bier kaum zu erwarten, dennoch hat jede Marke ihre Fans, und man kann sich ganz ernsthaft unbeliebt machen, wenn man mit dem falschen Kasten zur Party kommt. 

Alle paar Jahre kommen mal andere Biere in Mode, jedenfalls wenn es sich um Helles handelt. Dann haben plötzlich alle Tegernseer in der Hand. Oder Flötzinger. Oder Chiemseer. Aber nach dem Rausch setzt sich doch wieder die Erkenntnis durch, dass nichts über ein „August“ geht. Oder neuerdings über ein Giesinger. Dieses Bier gewinnt gerade an Popularität, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch diese jüngste Brauerei ein Wiesnzelt bekommt. Das Privileg ist jenen Marken vorbehalten, die mit Münchner Wasser hergestellt werden, und dient dazu, andere Marktteilnehmer fernzuhalten. So würde man das aber in München nie sagen.

Hier nennt man dieses kartellhafte Verhalten Tradition, und es sorgte bis vor einigen Jahren auch dafür, dass die CSU in der Staatskanzlei praktisch monopolhaft den Konservatismus für sich gepachtet hatte. Rechts von der CSU dürfe es keine Partei haben, donnerte einst der Ministerpräsident Franz Josef Strauß und musste sich dafür nicht viel Mühe geben. Inzwischen hat die CSU mit den Freien Wählern und der AfD um Stimmen zu kämpfen, die die Tradition mühelos rechts überholen. 

„Berlin und Hamburg sind Verwaltungsstädte, München ist Residenzstadt. Da zeigt man, was man hat”

Schon die bayerische Biergartenverordnung von 1812 besagt, dass Gäste sich ihr eigenes Essen mitbringen dürfen.

Dabei ist den Münchnern eigentlich gleich, woher jemand kommt, solange er oder sie sich an die Hausordnung hält. Die queere Szene rund um den Glockenbach genoss wegen dieser gelebten Toleranz (oder Gleichgültigkeit) bereits in den Siebzigerjahren Weltruf. Und im Biergarten darf jeder sein Essen selbst mitbringen und muss es nicht beim Betreiber kaufen. So stand es bereits in der ersten bayerischen Biergartenverordnung von 1812, und so gilt das bis heute. Solange man seine Weißwurst nicht in Scheiben schneidet und mitsamt Darm verzehrt, kann man in München mit weitgehender Milde seiner Tischnachbarn rechnen. Der Anpassungsdruck ist gering, die Stadt ist sicher, und der Ausblick ist sagenhaft.

Auch das ist ein Kriterium. München ist einfach die schönste große Stadt Deutschlands. Und nein. Darüber kann man nicht diskutieren. Das ist so, und es hat Gründe. Berlin und Hamburg sind Verwaltungsstädte, München ist Residenzstadt. Da zeigt man, was man hat. König Ludwig I. lebte hier denn auch seine Vorliebe für den Klassizismus aus und beauftragte seinen Lieblingsarchitekten Leo von Klenze mit der Gestaltung zahlreicher Gebäude, die bis heute nicht mit Graffiti besprüht wurden. Vielleicht weil sie den Sprayern dafür einfach zu schön sind. Dass man München manchmal als nördlichste Stadt Italiens bezeichnet, geht wohl unter anderem darauf zurück, dass man damals Maler aus Bologna und Mailand kommen ließ, die die Fassaden mit von dort importierten Farben strichen. 

„Man kann sagen, dass vor 60 Jahren das moderne München erfunden wurde. Blöd ist nur, dass danach praktisch keine neue Idee mehr dazukam.”

München ist übrigens immer schön, nicht nur im Sommer. Und es ist auch außenrum schön. Man muss bloß 20 Minuten mit dem Auto rausfahren und befindet sich schon im Alpenvorland. Man verabschiedet sich „an den See“. Je nachdem, in welcher Bubble man sich befindet, kann das der Feringasee sein, der Starnberger See oder der Ammersee oder der Tegernsee. Es ist beruhigend, wenn die Kinder in dieser Gegend aufwachsen dürfen. Egal, wohin auch immer es sie anschließend verschlägt, sie werden gerne wieder zurückkommen. München ist ein ulkiges Paradies voller Köstlichkeiten. Und leider ist München im selben Ausmaß absolut unerträglich und furchtbar.

Denn München hat sich verändert in den 30 Jahren, die ich jetzt hier lebe. Und dies nicht unbedingt zu seinem Vorteil. Das hat paradoxerweise mit seiner Resilienz gegen Veränderung zu tun. Mitte der Sechzigerjahre wurde unter dem visionären Bürgermeister Hans-Jochen Vogel die Stadt völlig neu gedacht. Unter ihm entstand das wundervolle Olympiagelände mitsamt Stadion, Einkaufszentrum, Wohngebiet und Park, dazu der Mittlere Ring im Rahmen einer topmodernen Straßenplanung, die U-Bahn und auch die Münchner S-Bahn mit der klugen Idee einer unterirdischen Stammstrecke quer durch München, auf welcher alle Linien fahren. Wer nur durch die Stadt will, muss nie länger als vier Minuten auf eine Bahn warten. 

Man kann sagen, dass vor 60 Jahren das moderne München erfunden wurde. Blöd ist nur, dass danach praktisch keine neue Idee mehr dazukam. Und deshalb ist der Mittlere Ring ganztätig überlastet, und auch die Kapazität der S-Bahn ist längst weit überschritten. Fällt nur eine aus, kommt der Takt auf sämtlichen Linien durcheinander. Und wer die Allianz Arena mit der U-Bahn verlassen will, muss erst einmal 20 Minuten laufen und dann noch einmal 15 Minuten auf eine Bahn warten. Das ist sehr, sehr altes München. 

Darauf trifft man auch, wenn man auf dem Online-Portal der Stadt nach Informationen sucht oder gar einen Termin machen will. Man tritt dann eine Zeitreise in die Neunzigerjahre an. Ich vermute, dass die Stadtverwaltung damals sehr stolz auf ihre Internetpräsenz war. Diese Begeisterung hält seitens des Kreisverwaltungsreferates offenbar bis heute an, wird aber von der Bevölkerung eher nicht geteilt. Die muss auch unter Dauerbaustellen leiden, bei denen teilweise die Arbeit schon vor langer Zeit eingestellt wurde, was man am Pflanzenwachstum zwischen den Absperrungen leicht erkennt, während man im Stau steht. Es gibt Münchner, die bis vor Kurzem keinen anderen Meister als den FCB erlebt haben. Und für die an der Zweibrückenstraße eigentlich immer schon eine Baustelle war. 

Schriftsteller Jan Weiler lebt seit mehr als 30 Jahren in München.

Jan Weiler, geboren 1967, arbeitete viele Jahre als Journalist, bevor er mit „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“ seinen Durchbruch als Schriftsteller hatte. Inzwischen hat er mehr als 20 Bücher, diverse Hörspiele und Drehbücher geschrieben, darunter „Das Pubertier“, „Älternzeit“ und „Der Markisenmann“. Einige davon lieferten die Vorlage für erfolgreiche Kinofilme. Jan Weilers neuester Roman „Munk“ handelt von einem Architekten Anfang 50, der nach einem Herzinfarkt seinem Leben auf den Grund geht – indem er die 13 Beziehungen seines Lebens rekapituliert (Heyne Verlag, 2024, 384 Seiten).

„München ist schon lange nicht mehr das geistige Zentrum Deutschlands”

In der vor Jahrzehnten für den Autoverkehr optimierten Innenstadt muss mühsam Platz für Fahrräder geschaffen werden, und wirklich interessante Neubauprojekte sind rar, weil die Münchner es gerne mögen, wenn ganz im Sinne Leo von Klenzes eher restaurativ geplant wird. Vor Jahren stimmten die Einwohner denn auch mehrheitlich gegen den Bau von Hochhäusern in ihrem schönen München ab. Und so bleibt die Stadt halt, wie sie immer schon war. Bloß mit viel mehr Einwohnern. Veränderung oder gar Entwicklung ist nicht unbedingt Teil des sogenannten „mia“. Vielleicht hat das ja vor gut 25 Jahren zum großen intellektuellen Brain Drain geführt. Jedenfalls ist München schon lange nicht mehr das geistige Zentrum Deutschlands. Noch in den Neunzigerjahren gab es nirgends so viele Verlage wie hier. München sei, hieß es damals, die zweitgrößte Verlagsstadt der Welt, nach New York. Den Rang ist die Stadt los. In Berlin gibt es mehr Buchverlage als hier. Und mehr Autorinnen und Autoren, was auch daran liegt, dass sie mitsamt ihren Verlegern, Lektorinnen und Agenten nach Berlin abgehauen sind. 

Dort Wind of Change, in München eher Windstille. Früher rauschte hier in den Bars und Restaurants die Kreativität der Journalisten und Künstler, die ab dem frühen Abend aufeinandertrafen und sich gegenseitig zu Romanen, Magazinen, Theaterstücken, Reportagen, Songs oder Drehbüchern inspirierten. Diese Welt ist leider weitgehend verschwunden. Den Platz der Spinner, der leichten Schwabinger Schwadroneure und bleiernen Intellektuellen haben die Immobilienhändler, Unternehmensberater und Aperol-Fiffis eingenommen. Das München der Dietls, Fassbinders, Eichingers, Althens, Seidls, Billers, Schirmers oder Dorns ist inzwischen ein ziemlich unkultiviertes Pflaster für Menschen mit zu weißen Hemden, zu weißen Zähnen, zu weißen Autos und zu großen Gürtelschnallen geworden. 

Die haben sich auch auf der Wiesn durchgesetzt. Als ich nach München kam, ging dort kein Mensch in Tracht hin. Höchstens Bauern aus dem Umland und Heimatvereine trugen dort Dirndl und Hirschlederne. Inzwischen ist von Ende September bis Anfang Oktober dort eine Arschnasenparade unterwegs, die wirklich jeder Beschreibung spottet. Es gibt Landhaus-Dirndl und Swarovski-Dirndl und Latex-Dirndl, getragen von in Qualzucht erschaffenen Grünwalder Gattinnen, die nur einmal pro Stunde atmen und darüber hinaus froh sind, wenn sie es in ihrem Outfit in die „BUNTE“ schaffen. Niemand sagt ihren Männern, dass man mit ein wenig Geschmack und Kenntnis weder ein Halstuch noch ein Karohemd zur Lederhose trägt. Das alles hat mit Brauchtum ungefähr so viel zu tun wie Andreas Gabalier mit Volksmusik. Wenn man das anspricht, wird es einem sofort als Defätismus ausgelegt. Und außerdem ist so etwas diesen zwischen kaltem Braten und verschwitztem Obatzda grölenden Neo-Spießern: scheißegal. 

„Tausende Studenten finden gar keine Bleibe und gehen dann eben wieder. Irgendwohin, wo man sie lieber haben möchte als in diesem München”

Das Residenztheater in München ist eines der vielen symbolträchtigen Gebäude, die den Prunk der Stadt vor sich hertragen.

Die Menschen, für die dieses Volksfest einmal gegründet wurde, können dort gar nicht mehr hingehen. Es ist, wie alles in München, einfach viel zu teuer. Wer heute eine Familie mit zwei Kindern hat, braucht in München auch gar nicht erst nach einer Wohnung oder gar einem Haus zu suchen. Quadratmeterpreise deutlich über 30 Euro bei Neuvermietungen sind nicht selten, eher üblich. Und da wegen der hohen Preise kaum noch Wohnungen gebaut werden und der Kaufmarkt fast schon zum Erliegen gekommen ist, wollen immer mehr Interessenten mieten, was die Situation weiter verschlimmert. Es kommen immer mehr gut verdienende Neu-Münchner hinzu, die irgendwo wohnen müssen. Die Stadt ist nun einmal irrwitzig attraktiv und ebenso erfolgreich. 

Bereits jetzt unterhalten Google, Amazon, IBM, Microsoft und Huawei riesige Zentralen in München, hinzu kommen alteingesessene Münchner Unternehmen wie BMW, MAN, Linde, Siemens, die Allianz, Munich RE und Infineon. Und in der Nähe des Hauptbahnhofs baut Apple gerade ein Entwicklungszentrum für Chipdesign. 1.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen dann eine Wohnung. Um sie in München zu binden, wird der Konzern vermutlich selbst mieten oder hohe Zuschüsse zahlen. Für suchende Krankenpfleger und Studentinnen wird es dann noch enger.

Die Menschen, die im Opernparkett zu Beginn des Abends die Türen schließen, die Leute, die Schuhe verkaufen, die die Tram fahren, die Venenzugänge legen und die Kinder unterrichten, können hier nicht mehr wohnen. Sie werden immer weiter abgedrängt. Erst landeten sie am Rand der Stadt, inzwischen schleudert es sie immer weiter raus ins Umland, von wo sie morgens müde mit der Regionalbahn in die City fahren. Wo sie wohnen, können sie nicht wurzeln, weil sie nie dort sind. Und in der Stadt können sie sich nicht einmal eine Pizza leisten. Es gibt für sie das hässliche Wort des Pendler-Prekariats. Das reiche München nimmt nur dann von diesen Missständen Notiz, wenn eine Station im Kinderkrankenhaus geschlossen werden muss, weil sich niemand mehr findet, der dort für zweieinhalbtausend Euro arbeiten und jeden Tag 120 Kilometer pendeln will. Die Stadtgesellschaft ist in akuter Not, Tausende Studenten finden gar keine Bleibe und gehen dann eben wieder. Irgendwohin, wo man sie lieber haben möchte als in diesem München.

Das ist bedauerlich, denn ausgerechnet dieses München bietet ihnen die besten Ausbildungschancen. Die Ludwig-Maximilians-Uni und die Technische Universität gehören zu den besten Hochschulen in Europa, besonders die TU hat einen exzellenten Ruf. Man bekommt bloß in der Stadt davon nichts mit, weil die ganzen Superlative draußen in Garching entstehen. Dort befindet sich längst der Hauptsitz der TU, dort findet man die Nerds, die die Welt verändern und an Lösungen für Probleme forschen, die wir nicht einmal kennen. Eine Uni von Weltrang in einer Stadt, die sich nur noch um Immobilien und Shop-Neueröffnungen dreht. Kein Mensch, der in Garching studiert, trinkt seinen Kaffee in der Altstadt. Dort sitzen nur noch Touristen und Angehörige der sogenannten Münchner Gesellschaft herum, die klaglos 28 Euro für einen Teller Pasta und zwölf Euro für 0,1 Liter Weißwein bezahlen. 

„Und warum gehe ich nicht nach Wien? Wenn es hier so blöd, teuer und manchmal langweilig ist?“

Als „Mailänder Licht" bezeichnet Jan Weiler die Lichtstimmung in München – wie sie hier zu sehen ist.

Es gibt rund 140.000 Studentinnen und Studenten in München, aber sie prägen die Stadt nicht mehr in der Weise wie früher. München leistet sich damit den Luxus, das Potenzial der Kreativität seiner jungen Mitbürger nicht zu nutzen. So kann man es sehen. Oder so: Immerhin dürfen sie da sein. Eine nicht repräsentative Umfrage bei meinen Kindern und ihren Freunden für diesen Artikel ergab, dass die meisten entweder schon in Wien sind oder dorthin wollen. Weil es cooler ist als München, genauso schön. Und entschieden günstiger. 

Und warum gehe ich nicht nach Wien? Wenn es hier so blöd, teuer und manchmal langweilig ist? Warum bleibe ich trotzdem? 

Darüber nachzudenken zieht einen in den Strudel der Begeisterung. Ja, ehrlich. Tatsächlich kann ich mir keinen Ort vorstellen, an dem ich lieber joggen möchte als im Englischen Garten. Ich möchte keine Sekunde unter den Kastanien in meinem Lieblingsbiergarten missen. Ich mag es, dass mir der Zeitungsbote die frische Zeitung drei Treppen bis zu meiner Wohnung hochbringt. Ich mag es auch, wenn die halbe U-Bahn voll ist mit Münchnerinnen und Münchnern, die von Schwabing aus ins Theater und in die Oper fahren. Und anschließend die umliegenden Restaurants und Bars bevölkern. Eigentlich mag ich zu viel hier, um darauf verzichten zu wollen. Auch wenn es seinen Preis hat. Meine Kinder sind zudem hier geboren, und auch das bindet mich auf eine sentimentale Weise. 

"Und dann ist hier dieses unfassbare Licht – Mailänder Licht, und das ist rot, gelb, orange und braun"

Und dann ist hier dieses unfassbare Licht. Jemand hat mir das mal erklärt, und es kann sein, dass es Unsinn ist, aber München ist voller Unsinn, dann kommt es auf ein bisschen mehr davon nicht an. Also: München ist nach dem Süden ausgerichtet, genau wie Freiburg zum Beispiel. Oder Stuttgart. Und diese Ausrichtung führt Richtung Mittelmeer oder mindestens nach Mailand. Die Menschen hier bekommen also Mailänder Licht, und das ist rot, gelb, orange und braun. Auf jeden Fall warm. Man sieht es auf den Fassaden und nach dem Regen: Diese Stadt wärmt ihre Bewohner. Das Mailänder Licht reicht bis ungefähr Frankfurt

Berlin und Hamburg hingegen sind dem Norden und Nordosten zugewandt. Und deshalb herrscht dort baltisches Licht. Grau. Grün. Blau. Weiß. Egal, wie heiß es dort auch mal werden mag: Es wird nie wirklich warm. Ich habe mir diese krude Theorie angeeignet, und ich vertrete sie mit jener Verve, die man an den Tag legt, wenn man schon ahnt, dass man Quatsch redet, dies aber auf keinen Fall zugeben möchte. Und wenn das nicht reicht, mein Bleiben zu begründen, dann vielleicht dies hier: München ist so schön langsam. Ich habe dafür keinen Beleg mehr gefunden, aber ich kann mich daran erinnern, dass es mal eine Studie gab, in der das Lebenstempo in großen Städten anhand der Schrittgeschwindigkeit ihrer Bewohner erforscht wurde. Dabei kam heraus, dass man natürlich in New York oder Tokio unglaublich fix unterwegs ist, geradezu getrieben. Aber auch Berlin ist schnell. Hamburg auch. Paris ebenfalls. Extrem langsam hingegen: München.

„Was soll ich irgendwo, wo das Brot billiger ist, aber vielleicht nicht so gut schmeckt?”

Eile ist keine Erfindung der Münchner. Besonders nicht am Wochenende. Früher sagten wir in der Redaktion: Ab eins macht jeder seins. Nach dem Mittagessen verschwanden die Kolleginnen und Kollegen peu à peu. Im Sommer an den See, im Winter in die Berge. Und dies immer mit der münchnerischsten aller Münchner Grußformeln: „Ciao“. Es würde mich gar nicht wundern, wenn „Ciao“ gar kein italienisches Wort wäre, sondern ein aus München nach Italien exportiertes Lehnwort. Es mag sich so allerhand hier verändert haben, und manchmal ist München schon wie jede andere Großstadt. Aber ich liebe die Anarchie hinter diesem verminderten Lebenstempo, diese Arschlecken-zwofuffzich-Attitüde, mit der mein Gemüsemann erst einmal ganz langsam den Daumen auf ein befeuchtetes Kissen drückt, bevor er eine Papiertüte vom Stapel hebt, um meine Tomaten hineinzuzählen. 

Und außerdem: Wo soll ich denn hin? Woanders sind die Probleme auch nicht kleiner. Und die Verheißungen sicher nicht größer. Was soll ich irgendwo, wo das Brot billiger ist, aber vielleicht nicht so gut schmeckt? Vielleicht bleibe ich am Ende vor allem deshalb, weil ich mehr als die Hälfte meines Lebens hier verbracht habe und München schließlich doch Heimat geworden ist. Erst letztes Jahr, nach 30 Jahren in dieser Stadt, habe ich mir endlich eine Tracht gekauft. Eine richtige, echte, nicht so einen Firlefanz. Und auch wenn das jetzt albern klingt: Ich kann es kaum erwarten, dass Ende September die Wiesn anfängt. Und ich meine Hirschlederne anziehen kann.