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Erleben

Jerewan lebt auf: Die armenische Hauptstadt im Portrait

Älter als Rom ist Armeniens Hauptstadt, die Jahrtausende wiegende Geschichte deutlich spürbar – während ihre Bewohner auf diesem satten Nährboden die Gegenwart feiern…

Text Jessica Jungbauer
Datum 03.02.2025

Schon Tage im Voraus sind die Hauptverkehrsadern der armenischen Hauptstadt für Autos gesperrt. Die Stadt fiebert nicht etwa einem wichtigen politischen Besuch entgegen, sondern den Yerevan Wine Days: Das Weinfest zu Beginn des Sommers ist das größte Event des Jahres. Jugendliche, Familien, alte Menschen spazie­ren von Stand zu Stand, probieren sich dort durch die besten Weine, viele tanzen später ausgelassen auf den Straßen der Stadt. Ein Ge­witter zieht auf, doch selbst das kann sie nicht aufhalten. Mit Regenschirmen gewappnet, ein Glas Wein in der Hand, bleiben die Menschen draußen und feiern weiter.

Die Weintradition von Jerewan

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Jerewan kann man genießen: vom international bekannten Ararat-Brandy...
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...über Wein im Weingeschäft In Vino...
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...bis hin zu Obst von armenischen Böden.

Jerewan hat rund eine Million Einwohner und ist die Hauptstadt Armeniens. Das Land ist eines der ältesten Weinanbaugebiete der Welt, es blickt auf eine mehr als 6.000 Jahre alte Weintradition zurück. Und die wird nicht nur während des Festes gefeiert. Die Saryan­ Straße wird das ganze Jahr über nur „Wein­straße“ genannt, weil sich hier die meisten Bars und Kneipen der Stadt aneinanderreihen.

Das war nicht immer so. „Früher war hier alles dunkel. Die Straße wurde auch ,Compu­terstraße‘ genannt, weil es hier nur Compu­terläden gab. Und die waren nur tagsüber geöffnet“, erinnert sich Mariam Saghatelyan, Mitinhaberin der ersten Weinbar der Stadt. In Vino heißt sie, 2012 wurde sie eröffnet. „Am Anfang kamen die Leute herein, schauten sich um und meinten nur: ,Hier gibt es ja gar kei­nen Wodka!‘“ Mariam Saghatelyan zeigt auf die vielen verschiedenen Regale, wo neben europäischen und südamerikanischen Weinen die aus Armenien ihre eigene Ecke haben. Vor zwölf Jahren hätten da etwa zehn ver­schiedene gestanden, heute hat In Vino mehr als 600 einheimische Weine im Sortiment. „Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden viele Weinberge, die für die Brandy­herstellung genutzt wurden, privatisiert und zerstört, weil die Menschen Getreide und Gemüse zum Überleben brauchten“, erzählt die Wein-Pionierin. Deshalb gebe es im ganzen Land gerade einmal 17.000 Hektar Weinberge. „Das entspricht etwa einer kleinen Weinbauregion in Italien.“ 

Kleines Gebiet, wachsendes Interesse: Armenische Weine, traditionell in Amphoren hergestellt, sind immer begehrter. In Vino hat mittlerweile sein eigenes Weingut, Trinity Canyon Vineyards, das erste im Land mit Bio-Zertifizierung.

Jerewan: Ein kleines, aber herzliches Land

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Wuchtige Regierungsgebäude mit geschwungenen Säulengängen prägen das Bild des Platzes der Republik.

Jerewan zählt zu den ältesten Städten der Welt, das Gründungsdatum, 782 vor Christus, liegt sogar 29 Jahre vor dem von Rom. Den Beinamen „die pinkfarbene Stadt“ trägt sie wegen des rosa Tuffsteins, der das Stadtbild mit vielen Bauten aus der Sowjetzeit prägt. Das kleine Land im Kaukasus – seine Fläche entspricht etwa der Brandenburgs – liegt gewissermaßen in einer geopolitischen Sackgasse, zwischen der Türkei und Aserbaidschan. Nur die Grenzen zu Georgien im Norden und zum Iran im Süden sind offen. Das Nationalsymbol Armeniens, der Berg Ararat, liegt heute auf türkischem Boden. 

Zurückhaltung gegenüber Fremden würde in dieser Lage nicht überraschen, sie ist aber kaum anzutreffen. Die Herzlichkeit der Armenier ist überwältigend. Überall fragen die Menschen neugierig, woher man denn komme, sei es an der Ampel oder an der Supermarktkasse. In den Cafés lassen die Armenier den Laptop auch mal sorglos auf dem Tisch stehen, in Bars bleiben Taschen unbewacht auf den Stühlen liegen.

Zu Gast im Tavern Yerevan Riverside

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Ein typisch armenisches Essen ist auch Dolma: gefüllte Weinblätter.

Abendessen im Tavern Yerevan Riverside, einem der beliebtesten Restaurants bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen, direkt am Fluss Hrazdan. Es gibt klassische armenische Gerichte wie Khurjin, zartes Lamm und gekochtes Gemüse, kunstvoll in Lavash-Brot eingewickelt. Dieses traditionelle Fladenbrot darf an keinem Tisch in Armenien fehlen, es wird in einem speziellen Tonofen im Boden innerhalb weniger Minuten gebacken. Lavash gehört sogar zum immateriellen Welterbe der UNESCO. Im Tavern Yerevan Riverside findet die Zubereitung vor den Augen der Gäste statt. Die Bäckerinnen wirbeln den Teig in der Luft, breiten ihn auf einer Art ovalem Kissen aus und kleben ihn dann an die heißen Wände des Ofens. Auch hier hält es die Armenier nicht lange auf ihren Stühlen. 

Zuerst findet, wie jeden Abend, eine halbstündige Feuershow statt, sie soll die Geschichte der Gründung der armenischen Nation und die Entstehung der armenischen Ideologie nacherzählen – von König Ara dem Schönen und dem Kampf gegen das assyrische Reich. Danach stürmen die Gäste zu armenischer Livemusik die Tanzfläche. Ein ganz normaler Mittwochabend in Jerewan.

Jerewan: Dunkle Geschichte, hoffnungsvolle Zukunft

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Die Zizernakaberd-Gedenkstätte erinnert an den Völkermord an Armeniern im Jahr 1915.
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Doch es gibt auch viel Hoffnung. Davon zeugen immer mehr Bars und Cafés – wie Minas Cocktail Room.
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Hier zu sehen: die ottage Cheese Pancakes im Restaurant Gallia.

So langsam beginnen die Armenier, mit Stolz auf ihr Land, ihre Identität und ihre reiche Kultur zu blicken. Doch die Geschichte ist immer gegenwärtig. Hoch über der Stadt thront das Genozid-Mahnmal, die Zizernakaberd-Gedenkstätte, die an die Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Jahr 1915 erinnert, das dunkelste Kapitel der Nation. Eine ewige Flamme brennt in der Mitte, begleitet von leiser Musik, während viele Besucher dort Blumen niederlegen. Auch die jüngeren Wunden sind allgegenwärtig: der Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan und der schwelende Konflikt um die Region Bergkarabach.

Inmitten dieser schweren Erinnerungen gehört es zur armenischen Kultur, bei einem gemeinsamen Essen einen Toast auf die Familie, Freunde und die Gesundheit auszusprechen. Doch heute stoßen die Armenier auch auf das Hier und Jetzt an. Einer, der in Jerewan mit Zuversicht in die Zukunft blickt, ist der Gastronom Artak Harutyunyan. „In Armenien verändern sich Dinge sehr schnell. Aber ich denke, die Zukunft wird besser sein“, sagt er. „Früher aßen alle zu Hause, heute essen alle auswärts. In Städten wie Paris existiert diese Kultur des Ausgehens bereits seit Jahrhunderten. In Armenien erst seit kurzer Zeit, den 1990er-Jahren.“ Zur Sowjetzeit, so erzählen sie es hier, gab es etwa zwei bis drei Restaurants in der Stadt, heute besteht allein sein Collective aus drei Lokalen nebeneinander, die alle gut besucht sind: Das Afrolab mit eigener Rösterei ist eines der Cafés, das vor vier Jahren die jüngste Welle der Coffee-Szene in Armenien gestartet hat. „Mittlerweile haben wir auch sehr besondere Bohnen wie Panama Geisha oder Colombia Juicy Berries im Sortiment.“ 

Im angrenzenden Gallia gibt es vom Frühstück bis zum Abendessen eine europäisch angehauchte Küche, darunter sehr begehrte Cottage Cheese Pancakes. Ziemlich gute Cocktails werden nebenan in Minas Cocktail Room serviert, einer Bar, die mit farbenfrohen Gemälden geschmückt ist. Die sind eine Hommage an einen der bedeutendsten armenischen Künstler der modernen Malerei: Minas Awetissjan. Auch hier werden bereits um kurz nach 22 Uhr die Tische zur Seite gestellt, und die Tanzfläche füllt sich mit Menschen, die einfach weiterfeiern. 

Geheimtipps für Jerewan

Auch auf den Straßen ist die Zuversicht angekommen. Während auf dem Land in Armenien immer noch alte Ladas das Straßenbild prägen, flitzen in Jerewan auch Ferraris und Lamborghinis vorbei. Daneben sitzen Menschen am Straßenrand, die frisch gepflückte Aprikosen und Feigen anbieten. Maulbeerbäume wachsen mitten in der Stadt, und ihre Bewohner pflücken die süßen Früchte zu Beginn des Sommers direkt von den Ästen. Dass der Boden darunter klebrig ist, interessiert niemanden, Jerewan ist nicht geleckt sauber – wird aber immer schicker. 

Aus den wenigen alten Gebäuden entstehen neue Orte in der Stadt, etwa die Mirzoyan Library, ein kultureller Treffpunkt. Er wurde von dem armenischen Dokumentarfotografen Karen Mirzoyan ins Leben gerufen. Eine unscheinbare Tür führt in ein traditionelles Jerewaner Haus mit einer Holzkonstruktion aus Zeiten vor der Sowjetunion. Menschen sitzen an Vintage-Tischen mit Karo-Tischdecken, erfrischen sich bei Kaffee und Baklava-Eiscreme oder genießen einen Teller Tolma, die traditionellen gefüllten Weinblätter. Außerdem befindet sich hier die größte Fotobuchbibliothek des gesamten Kaukasus. Dort werden regelmäßig wechselnde Fotoausstellungen gezeigt.

Auch das Lumen Coffee 1936 ist heute eines der angesagtesten Cafés der Stadt. Davor war es ein Buchladen, davor ein Musikfachgeschäft – und noch früher ein Tabakladen. Wer die Räume voller Geschichte betritt, ist umgeben von filigraner Holzarchitektur des renommierten armenischen Kunsthandwerkers Hovhannes Naghashyan. Der hintere Bereich des Cafés wurde in einen modernen Co-Working-Space verwandelt, in den Regalen stehen Naturweine und Bücher zum Verkauf – einer der vielen Tribute an die vielfältige Geschichte dieses Ortes. 

Bedeutende Orte in Jerewan: Matenadaran, Kaskade und Co.

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Auch das History Museum of Armenia ist ein Highlight in Jerewan.
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Die Kaskade ist wohl einer der meistfotografierten Orte in Jerewan.
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Barista im Lumen Coffee 1936, einem der coolsten Cafés der Stadt.

Um mehr über die einzigartige Identität der Armenier zu erfahren, bietet sich ein Besuch des Matenadaran an. Das Zentralarchiv mit seinen mehr als 17.000 Manuskripten ist nicht nur eines der wichtigsten Museen Jerewans, sondern auch eines der größten weltweit. „Zehn Millionen Armenier gibt es auf der Welt, drei Millionen leben noch hier im Land“, sagt die Stadtführerin Nane Khachatryan am Eingang, umgeben von Statuen der bedeutendsten armenischen Gelehrten.

Bedeutende Manuskripte von der Antike bis zum Mittelalter werden hier aufbewahrt. Ebenso beeindruckend wie die Artefakte sind die historischen Zahlen: Im Jahr 301 nahm Armenien als erste Nation das Christentum als Staatsreligion an. „Im Jahr 405 hatte Armenien ein eigenes Alphabet“, fügt Khachatryan hinzu. Der Matenadaran bewahrt also nichts weniger als das reiche Erbe der armenischen Kultur und Geschichte, 1997 wurden seine Handschriften ins Memory of the World der UNESCO aufgenommen. Und diese Stadt schreibt ihre Geschichte in beeindruckender Art fort. 

An lauen Abenden erwachen die öffentlichen Plätze zum Leben, wie der Platz der Republik, der bis in die späten Abendstunden voller Menschen ist und wo Kinder in den Brunnen spielen. Der beliebteste Treffpunkt der Stadt scheint aber die Kaskade zu sein, jener häufig fotografierte Treppenkomplex, in dem heute ein Kunstmuseum liegt. Im Inneren des Gebäudes verbergen sich Galerien mit Ausstellungen, die Treppen sind mit modernistischen Skulpturen, Springbrunnen und Blumenbeeten geschmückt. Abends erklimmen die Menschen die 572 Stufen, um den schönsten Blick über die Stadt zu genießen. Und über allem wacht majestätisch der Ararat, der heilige Berg und das stolze Wahrzeichen Armeniens – auch wenn er jenseits der Landesgrenzen liegt. 

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