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Städtereisen

Istedgade: Vom Rotlicht- zum Szeneviertel

Wo früher Sexshops lockten, trifft sich heute die kreative Szene in lässigen Cafés, stylishen Boutiquen und coolen Kneipen: unterwegs auf der Istedgade, Kopenhagens berüchtigte Meile.

Istedgade – eine Straße mit einem Ruf wie Donnerhall. Schon der Gedanke an die zentrale Meile des Kopenhagener Bahnhofsviertels trieb Besuchern jahrzehntelang den Schweiß auf die Stirn. Aus Angst – oder vor Erregung. Die gleich am Westausgang des Hauptbahnhofs beginnende Istedgade war seit den Sechzigern der Mittelpunkt des Rotlichtlebens im Königreich, ja in ganz Skandinavien. Hier und in den Seitenstraßen lag die Hochburg der Pornoindustrie, lockten Sexshops mit anderswo Verbotenem, buhlten „Modelle“ um Kunden, wurde gehurt und gehascht, gesoffen und gezankt, geprellt und geprügelt. Vesterbro war Vesterbronx, dunkel und verrucht. 

Heute dagegen leuchtet Vesterbro – mit hellen, frisch renovierten Fassaden und dem klaren Neonlicht von Cafés, Bars und Restaurants. Mit Modeboutiquen und Designshops, zwischen denen die traditionellen Gemüsehöker und Gebrauchtmöbelhändler ebenso verloren wirken wie die letzten paar Geschäfte mit Doppeldildos und Gummipuppen in der Schaufensterauslage.

„Vesterbronx? Ach, das ist lange her“, sagt Möbeldesigner Karsten Lauritsen lachend, der in Vesterbro lebt und arbeitet. „Verschwunden und kein Vergleich mehr mit heute.“ Stimmt. Fast. Nur wer ganz genau hinschaut, entdeckt nach dem Verlassen des Bahnhofs beim Schlendern durch die Istedgade noch Relikte alten, naja, Glanzes. Und selbst die scheinen eher ironisches Zitat als ernst gemeinte Werbung. Wie der Aushang vor einer Striptease-Bar, der verkündet: „Erstmalig im 21. Jahrhundert verführerischer Feierabend- Striptease ab 15 Uhr.“ 

Ein deutlicher Hinweis zumindest auf eines: Im Reich von Königin Margrethe II. enden die Arbeitstage offenbar beneidenswert früh. „Ich wohne nun fast zwölf Jahre hier“, sagt Karsten Lauritsen, „aber die rasante Erneuerung und Verjüngung meines Kiezes erstaunt mich selbst immer wieder.“ Der 40-Jährige könnte glatt als eine Art Prototyp des neuen Vesterbro gelten: Es sind die jungen, gut ausgebildeten Kreativen, die dem Stadtteil ihren Stempel aufdrücken. Die das stadtnahe Quartier zur begehrten Großstadtadresse gemacht haben, in dem man wohnt, arbeitet und vor allem gern und oft ausgeht.

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Das Café "Bang & Jensen" ist in einer ehemaligen Apotheke untergebracht. Jetzt gibt es Gezapftes ohne Rezept.
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Außer Vesterbro mit seinen restaurierten Altbaufassaden (hier Häuser in der Skydebanegade) ...
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... wandelt sich auch der Stadtteil Nørrebro zu einem Multikulti-Kiez mit Kneipen wie dem "Bryghus" (Brauhaus).

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Istedgade: Von der Fleischstadt zur Kulturoase

Die Veränderungen betrafen nicht nur das älteste Gewerbe der Welt; auch eine andere Fleischindustrie ist auf der Strecke geblieben: Kopenhagens riesiger Schlachthof, für Generationen der größte Arbeitgeber in Vesterbro. „Kødbyen“ nannten die Dänen diese Stadt in der Stadt ebenso unsentimental wie treffend, die „Fleischstadt“. An die blutige Zeit der Metzger und Knochenhauer erinnern nur noch Namen – die „Slagtehusgade“ (Schlachthausstraße) beispielsweise und die 1901 erbaute Rinderschlachthalle „Øksnehallen“. Wo einst Blut floss und der Tiere Tod an heißen Sommertagen zum Himmel stank, berauschen sich seit 1997 Kunstfreunde an oft avantgardistischen Ausstellungen – „Øksnehallen“ gilt als eine der ungewöhnlichsten Kulturlocations der dänischen Hauptstadt. Und das „Byens Lys - PH Cafeen“ – stilecht im skandinavischen Design mit den typisch dänischen Lampen des Architekten Poul Henningsen ausgestattet – ist Treffpunkt für Brunch oder Live-Konzert. Pionier Nummer zwei: das „Café Bang & Jensen“. Eingezogen ins Ladenlokal von „Istedgades Apothek“ und zum großen Teil mit dem alten Mobiliar ausgestattet. „Ein Vesterbro-Klassiker“, lädt Karsten Lauritsen zum Besuch, „und seit gut zehn Jahren beliebt bei uns im Kiez.“

Überhaupt: Vesterbros Cafés. Überraschend viele und gute Cafés gibt es „auf“ Vesterbro, wie man hier sagt. Unser Vorschlag: „Riccos Kaffebar“ in der Istedgade. „Riccos“, das bedeutet hohe Kaffeekunst und die Beschränkung aufs Wesentliche – die Karte ist klein, aber fein, kaum mehr als „reiner“ Kaffee, Latte Macchiato und Café au lait im Angebot. Doch die Zutaten sind ausgesucht, und Ricco röstet seinen Kaffee selbst in einer kleinen Rösterei auf Bornholm. Kein Wunder also, dass sich in der schmalen Kaffeestube Promis neben Studenten am Tresen drängen. „Außerdem“, so TV-Koch Nikolaj Kirk, „ist immer jemand da, mit dem man ins Reden kommt.“ Vom „Riccos“ ist es auch nicht weit zum Enghave Plads, dem Herzen von Vesterbro nach Meinung vieler hier Lebender. „Warum? Ganz klar: Anders als etwa am Halmtorvet sind hier Nachbarschaft und Szene langsam gewachsen“, erklärt Karsten Lauritsen. Wichtige Impulse dazu liefert hier seit 1996 auch das „Vega Musikkens Hus“ mit seinem Nachtclub und Sälen, in denen schon internationale Größen wie Björk und Robbie Williams aufgetreten sind.

 

Alte Fabrik trifft neues Design

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Junges Design und altes Gemäuer: Möbelentwickler Karsten Lauritsen vor seinem "Designer Zoo".

Nur wenige Schritte sind es von hier hinüber zur zweiten Hauptachse des Stadtteils, der Vesterbrogade. An ihrem oberen Ende – und damit fast schon in der Vorstadt Frederiksberg – zeigt uns Karsten Lauritsen sein Reich: den „Designer Zoo“. Hinter dem ungewöhnlichen Namen verbirgt sich auch ein für das experimentelle Vesterbro ungewöhnliches Konzept. „Seit 1999 versuche ich, in diesem alten Fabrikgebäude kreative Kunsthandwerker unter einem Dach zu versammeln“, sagt Lauritsen. Zurzeit sind es neben dem Möbelmacher beispielsweise die Keramikerin Malene Helbak oder die Glas- und Metallkünstlerin Bettina Schori. Malene Helbak: „Wir machen alle schöne Gebrauchsdinge wie Trinkgläser, Vasen oder Kleidung. Aber es ist immer auch Raum für Ungewöhnliches, Überflüssiges, Lustiges – wir sind eben wie das Quartier.“

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Vesterbros Kaffee-König Ricco in seiner Kaffeebar.
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Der "Designer Zoo" bietet neben Kleidern auch Möbel und Keramik feil.
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Am Pussy Galores sitzt man auf Arne-Jacobsen-Stühlen.

Internationaler Charme in vielen Stadtteilen

Auch ein Blick in den Hinterhof zeigt das neue, andere Vesterbro. In der Fahrradmanufaktur „Sorte Jernhest“ (Schwarzes Eisenpferd) entstehen moderne Varianten des bekannten dreirädrigen Transportrades „Christiania Bike“ oder Neuinterpretationen des mehr als hundert Jahre alten dänischen Designklassikers „Pedersen-Rad“.

Der Name des Unternehmens spielt an auf das gleich gegenüber liegende „Teatret ved Sorte Hest“ – ein Relikt aus wilden Hausbesetzertagen, in denen die freie Künstlergruppe ab 1978 politische Zeichen setzte. „Denn eigentlich fing die Stadterneuerung auch hier im so genannten Ydre Vesterbro, dem Äußeren Vesterbro, in den Siebzigern mit der Besetzung und damit Rettung einiger der teilweise verfallenen alten Gründerzeithäuser an“, erinnert sich Karsten Lauritsen. Von denen hätten die Stadtplaner gern noch mehr dem Erdboden gleichgemacht und durch Neubauten ersetzt. Die Geschichte bewies auch in diesem Fall, dass das Gespür der Basis richtig war: Gerade die Wohnungen in den vier- oder fünfgeschossigen Altbauten sind heute bei den 35000 Einwohnern Vesterbros besonders populär.

Das trifft auch auf die anderen beiden Kopenhagener Bro (Brücken)-Viertel zu. Allen voran auf das immer schon etwas vornehmere Østerbro, aber auch auf Nørrebro. Entstanden sind alle drei Quartiere ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Nachdem 1853 eine schwere Choleraepidemie in den engen Gassen der Kopenhagener Altstadt gewütet hatte, wurden die alten Schutzwälle geschleift, um neuen Platz zu schaffen. Wohnblockweise entstanden Vesterbro, Nørrebro und Østerbro, aber auch die Sundby-Städte auf der Insel Amager. Sie nahmen Arbeiter und die immer zahlreicher in die Hauptstadt drängende Landbevölkerung auf. Ähnlich quirlig und bunt wie damals ist das Milieu vor allem in Nørrebro. Mit seinen gut 72000 Bewohnern und einem bunten Völkergemisch aus jungen Familien und Nydansker – den Neu-Dänen, wie die Einwanderer auf Dänisch genannt werden – ist der Multikulti-Charme hier sogar noch mehr zu spüren als im hippen Vesterbro. Nørrebro ist (noch) nicht so teuer, die Mieten auch für Ladenlokale günstiger, Wohnungen bezahlbarer. Für internationale Schlagzeilen wie beispielsweise 1993, als Jugendliche rund um die Nørrebrogade aus Protest gegen die Maastricht-Verträge Steine gegen Polizisten warfen und Autos in Brand setzten, sorgt Nørrebro kaum noch. Protestkultur hat auch hier lebensfroher Genusskultur Platz gemacht.

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Einer von vielen charmanten Trödel-Läden in Nørrebro.
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Coffee to wash: Im Laundromat Café lässt sich Nützliches mit Angenehmem verbinden.
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Altmodische Werbung an einem Kiosk.

Kopgenhagens Viertel: Cafés an jeder Ecke

Da sprießen wie am Sankt Hans Torv Cafés wie „Pussy Galore's Flying Circus“, „Sebastopol“ oder „Kaffe Plantagen“ nur so aus dem Boden. In der Ryesgade lockt die Hausbrauerei „Nørrebro Bryghus“ mit Doppelbock und Ale Bierkenner an. Und in und um die Ravnsborggade gehört gut ein Dutzend Antiquitäten- und Secondhandläden zur internationalen Spitzenklasse. Der Unterschied zu Vesterbro? Maria Jessen-Petersen, die sowohl in der Birkegade (Nørrebro) wie auch der Skydebanegade (Vesterbro) ihre kleinen, plüschig-gemütlichen Teestuben „Tea Time“ führt, überlegt nur kurz: „Nørrebro ist direkter, unkomplizierter.“

An warmen Frühlings- oder Sommertagen kann man die Freiheit, ja Nonchalance der Einwohner von Nørrebro auf dem Friedhof Assistens Kirkegård erleben: Dann wandelt sich das größte Grün im Stadtteil vom stillen Gottesacker zur Freizeitwiese. Jogger beleben die Friedhofsruhe und auf den Rasenflächen spielen Kinder Fußball oder Federball. Ein Sakrileg? Eher dänische Gelassenheit. Und keineswegs neu. Schon Märchendichter Hans Christian Andersen – übrigens auch hier begraben – erzählt von jenen Samstagnachmittagen, in denen das Bürgertum auf den Assistens-Friedhof zog, wo die Leute „die Grabinschriften lasen, im Gras saßen, im Freien aßen und ihren Schnaps tranken“. Schön, dass auch in Kopenhagen manches bleibt, wie es schon immer war.

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