Prototyp der Weltoffenheit: Nils Minkmar über das Saarland

Das Saarland hat seinen eigenen, traditionsbewussten Umgang mit dem Hier und Jetzt gefunden – findet der Journalist und Schriftsteller Nils Minkmar, der hier aufgewachsen ist.
Text Nils Minkmar
Datum24.08.2025

Auf einer Fahrt durch Saarbrücken mit einem Einheimischen am Steuer muss man stets auf eine dramatische Vollbremsung gefasst sein, denn jederzeit kann eine Person am Straßenrand (im Saarländischen immer noch Trottoir genannt) auftauchen, die dringend und lautstark begrüßt werden muss. Vollbremsung, Scheibe runter, Warnblinker. Handelt es sich um den verlorenen Bruder, einen lang vermissten Freund oder einen durch Wunderheilung genesenen Kranken? Es kann gut auch der Cousin eines einstigen Nachbarn sein, mit dem man als Kind gern gespielt hat und der nun eine Straße weiter lebt, weswegen man ihn nur alle zehn Tage sieht. Oder einer, der ihm ähnlich sieht. Es folgt dann ein formvollendeter saarländischer Dialog von Samuel Beckett’scher Reduktion und Tiefe: „Unn?“ „Ei, Gudd!“ 

So ist das im Saarland: Probleme werden analog, mündlich und persönlich gelöst, alle Dienstwege sind klein und kurz. Kennst du nicht einen, der bei der Post schafft, würde man unter Saarländern fragen, ich brauche eine Briefmarke. Das Netzwerk – Familie, Kollegen, Nachbarschaft sowie Familie der Nachbarn, Kollegen der Familie der Nachbarn sowie deren Verwandtschaft und Nachbarschaft – will gepflegt sein und es ist offen, nicht exklusiv. 

Es gibt derzeit viele gute Gründe, an die Saar zu reisen. Nach einer langen Phase im Schatten der deutschen Aufmerksamkeit lassen sich dort dringend benötigte kulturelle und geistige Ressourcen finden, die in der derzeitigen Weltlage selten geworden sind. 

„In der komplizierten politischen Großwetterlage unserer Tage bildet das Saarland eine Oase der praktischen Vernunft.“

Das kleinste deutsche Flächenland war früher oft ein Thema der großen Politik. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es unter französischen Einfluss, in der Saarabstimmung 1935 scheiterte der Versuch, Hitler an der Saar zu stoppen, nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich die saarländische Frage erneut. Die Saarabstimmung 1955 war ein brisanter Moment der europäischen Geschichte, nach der Rückkehr zur Bundesrepublik prosperierte das kleine Land und mehr noch: Mit dem Max-Palu-„Tatort“, der Comedy-Familie Heinz Becker und Oskar Lafontaine prägte es die bundesdeutsche Populärkultur. Nach der Wiedervereinigung geriet das Saarland in Vergessenheit, lediglich die politischen Spurwechsel von Lafontaine sorgten für ein wenig Aufmerksamkeit.

Und nun ändert sich das. Die Abwendung der USA von Europa, der Brexit und die Feindseligkeit Russlands führen dazu, dass Frankreich und Deutschland wieder enger aneinanderrücken. Plötzlich wird auch die Grenzregion wieder interessant, in der am 3. Oktober das große Fest zum Tag der Deutschen Einheit gefeiert wird. In der komplizierten politischen Großwetterlage unserer Tage bildet das Saarland eine Oase der praktischen Vernunft. Obwohl das Land unter weitgehendem Desinteresse der Rest-Republik heftige ökonomische Krisen überstehen musste und hier eigentlich jede Menge Wutbürgerinnen und Wutbürger herumfuchteln müssten, hat die extreme Rechte im Saarland keine Chance. Jenseits der Grenze, in Lothringen, gibt es die gleichen Probleme und hohen Zuspruch für die extreme Rechte der Familie Le Pen. 

Doch der Status des Saarlands als Bundesland mit Parlament, Universität und Rundfunksender wirkt dem Gefühl des Abgehängtseins entgegen, die Region Grand Est in Frankreich hat es da schwerer. Auch die Neu-Saarländerin Sahra Wagenknecht und ihr Mann schaffen es nicht, die Sympathie, die ihnen im Saarland persönlich noch entgegengebracht wird, in Wahlerfolge umzumünzen. Alle Journalistinnen und Journalisten der Republik würden viele gute Gründe finden, wenn die AfD kurz vor der Machtübernahme in Saarbrücken stünde, stattdessen gibt es eine Alleinregierung der Sozialdemokraten. Sollte es mit der einmal zu Ende gehen, steht eine angenehme Union bereit, die unter Stephan Toscani einen liberalen und klar europäischen Kurs hält.

„Der saarländischen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt”

Das Saarland ist eng mit seiner Industriekultur verwoben. Das wird etwa sichtbar an der Völklinger Hütte, seit 1994 UNESCO-Weltkulturerbe.

Die große Gelassenheit ist keine Laune und kein Zufall, sondern eng verwoben mit der Geschichte des Landes. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die innerdeutschen Migranten in die Dörfer an der Saar zogen, um sich niederzulassen und in den Hightech-Branchen Kohle und Stahl gutes Geld zu machen und Familien zu gründen, gab es kein soziokulturelles Modell, auf dem sie aufbauen konnten. Es hatte eben noch nie eine Industrialisierung gegeben. Im Wortsinn heißt das Verfleißigung: Die Welt der Landwirtschaft und des Handwerkes kannte ihre Jahreszeiten, ihre Festtage und bot die Möglichkeit zur Pause, all dem sagte die neue Wirtschaftsordnung den Kampf an. Es war ein ganz neues Leben. 

Im Saarland war das Vereinswesen ein beliebtes und wirksames Mittel, um diese völlig neue Gesellschaft menschlich zu gestalten. Noch heute ist das kleine Land ein Champion der Vereinsdichte: Gesangsvereine, Sportvereine, Radfahrvereine, die neue Zeit wurde gemeinsam gestaltet. Logischerweise hatte auch hier die Politik ihre Hände im Spiel. Den Herren der Gruben und Stahlwerke war es allemal lieber, ihre Leute organisieren sich im Verein, als dass sie linken Ideen oder gar der Sozialdemokratie anheimfallen. Es entstand damals ein eigentümliches saarländisches Modell mit strengen Arbeitgebern, die die Sozialdemokraten nach Kräften bekämpften, dafür aber für ihre Arbeiter und ihre Familien sorgten. So jedenfalls die Theorie. Mit heutigem Blick betrachtet war die frühe Industrialisierung auch hier eine krasse Ausbeutung, hatten die Beschäftigten viel zu wenig Rechte. Die mussten erst erkämpft werden. 

Eine Form der erstrittenen Entlohnung ist spezifisch saarländisch, die Förderung des Eigenheims. Man baute sich sein Häuschen in Gruben- oder Eisenwerksnähe selbst, mit Materialien, die der Arbeitgeber zur Verfügung stellte – oder er drückte zwei Augen zu. Noch heute führt das Saarland die Liste an: 2018 bewohnten 64 Prozent der Saarländerinnen und Saarländer eine Wohnung, die ihnen selbst gehört. An der Bahnstrecke kann man daher eine weitere saarländische Kunstform studieren, den selbst gefertigten An- und Ausbau. Je nach Wachstum der Familie oder der handwerklichen, ja kleinbäuerlichen Ambitionen kann ein kleines Einfamilienhaus beträchtlich erweitert und umgenutzt werden: Weitere Wohnräume entstehen und werden später zu Wintergärten, Werkstätten, Lagerräumen und Rohstofflagern – der saarländischen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und am Samstag sind die Baumärkte voll.

Über Nils Minkmar

Nils Minkmar arbeitet als Journalist, Schriftsteller und Podcast-Host.

Nils Minkmar wuchs im saarländischen Dudweiler auf. Heute lebt er in Wiesbaden, schreibt Bücher, Essays und Kommentare und ist einer der Hosts des Podcasts „Was bisher geschah“.

Die neuen Grenzkontrollen: „ein lebender Anachronismus in einer Region, in der Arbeits- und Lebenswelten längst grenzenlos sind und die ohne Migration gar nicht existieren würde.”

Zur faszinierenden Mischung der saarländischen Industriekultur zählen aber nicht nur das Vereinswesen und die hohe Eigenheimdichte, sondern auch die Rolle der populären Kultur. Im August 1906 machte ein globaler Promi im Saarland Station: Buffalo Bill gastierte mit seinem Wildwestzirkus und spielte an zwei Abenden im ausverkauften Stadion. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung waren gekommen, um sich den Westernhelden anzusehen. Das Saarland war ein Kinoland und entwickelte eine bis heute andauernde Begeisterung für den modernen Fußball, aber auch für Schlager, Pop und Rock. Frank Farian, der Mann hinter Boney M. und Milli Vanilli, begann an der Saar. Letztes Jahr ist Farian gestorben, sein Grab in Elversberg hat sich zu einer Touristenattraktion entwickelt. 

Eine weitere Quelle saarländischer Inspiration ist die überwundene Grenze nach Frankreich, wo man aktuell aus der Nähe bestaunen kann, welche absurden Folgen die erneute Einführung von Personenkontrollen zwischen Deutschland und Frankreich zeitigt: Längst reicht der saarländische Nahverkehr mit der modernen Tram bis nach Sarreguemines in Frankreich, nun steigen ab und an statt Fahrkartenkontrolleuren Grenzwächter hinzu. Es ist reine Symbolik. Die Grenze ist lang und führt durch verwunschene Wälder, wer sie passieren möchte, geht notfalls zu Fuß. Der schnelle Zug nach Paris, der in Saarbrücken hält, muss im lothringischen Forbach schon wieder halten, damit die Grenzer wieder aussteigen können. Dort warten sie dann auf den TGV in entgegengesetzter Richtung. In den wenigen Minuten sind natürlich keine effektiven Kontrollen möglich, es handelt sich auch hier um Symbolpolitik und einen lebenden Anachronismus in einer Region, in der Arbeits- und Lebenswelten längst grenzenlos sind und die ohne Migration gar nicht existieren würde. 

Obwohl es sich um eine traditionsbewusste Region handelt, kann sich kein Saarländer auf Ethnie, Religion oder einen Stammbaum bis in die Tage der Nibelungen berufen, um Neuankömmlinge auszugrenzen. Ohne die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gäbe es kein Saarland, und die Bewohner der beschaulichen Ecke im Südwesten sind allesamt Nachkommen von Menschen, die wegen besserer wirtschaftlicher Aussichten dorthin zogen. Im Weltkulturdenkmal Völklinger Hütte kann man besichtigen, dass Kohle und Stahl die ersten Kapitel der Geschichte der Globalisierung schrieben. In Völklingen schufteten Männer, die aus der ganzen Welt kamen.

„Ein neues Luxemburg mit seinem Reichtum, ein neues Brüssel mit seiner Macht – all diese Optionen standen mal im Raum.”

Er ist ein Symbol für das, was aus dem Saarland und Saarbrücken hätte werden können: dieser Bau von Georges-Henri Pingusson.

Am Ufer der Saar lässt sich auch ein hoffnungsvolles Bauwerk für ein geeintes Europa besichtigen – ein Bau, der aus der Zukunft kam und noch heute mit seinem architektonischen Optimismus ansteckt: das einstige Kultusministerium, erbaut vom französischen Architekten Georges-Henri Pingusson. In den schmalen, eleganten Bau sollte damals die französische Botschaft einziehen, sollte Saarbrücken Hauptstadt Europas werden. Man wandelt durch lange, helle Gänge, hin zu hohen Räumen und Terrassen. An ein an der Côte d’Azur vor Anker liegendes weißes Kreuzfahrtschiff sollte der Bau erinnern. Ein neues Luxemburg mit seinem Reichtum, ein neues Brüssel mit seiner Macht – all diese Optionen standen mal im Raum für das Saarland und Saarbrücken, aber es kam alles anders. Seitdem lädt der Pingusson-Bau zum Träumen ein, davon, was hätte sein können und was noch werden könnte. 

Doch auch nach dem Aufstieg, in der großen, langen Krise und den Jahren des Strukturwandels hat das Saarland der Verzweiflung keine Chance gelassen. Gerade in Zeiten, die von äußeren Bedrohungen und der Furcht vor den Folgen neuer Technologien wie der KI geprägt sind, ist eine Reise an die Saar zu empfehlen. Hier wird erlebbar, wie eine Gesellschaft sich mit einem postmaterialistischen, postheroischen Lebensstil versöhnt.

„Man muss nicht bis Bhutan pilgern, um sein Glück zu finden. Sulzbach und Dudweiler tun es auch!”

Das gute Leben ist nicht davon abhängig, wie der Kontostand ist oder wo man in welchem Ranking steht, es ist vielmehr eine kulturelle und mentale Disziplin, die man üben kann wie ein Musikinstrument. In den kleinen Gärten und Hinterhöfen des Saarlands herrscht praktische Lebensfreude – obwohl nicht alles optimal ausgestattet ist. Niemand hat es besser formuliert und immer wieder beschrieben als der 2018 verstorbene saarländische Autor Ludwig Harig: „Das Leben und das Lebenkönnen, das Leben und das Lebenlassen, das ist saarländische Lebensart.“ 

Harig hat erkannt, dass die bewegte Geschichte des Saarlandes zu einer besonderen Geisteshaltung führte, in der man Gegensätze nicht mehr mit Gewalt löst, sondern irgendwie aufhebt, darübersteht und das Beste von allem versammelt: „Wer (heute noch) vom Saarländer sagt, er sei mal so, mal anders, der sagt nicht die Wahrheit. Der Saarländer ist nie so und er ist nie anders, sondern er ist immer die Versöhnung des So- und Andersseins.“ Man muss nicht bis Bhutan pilgern, um sein Glück zu finden. Sulzbach und Dudweiler, wo Harig zeitlebens wirkte, tun es auch – bequem per Deutschlandticket mit Bus und Bahn zu erreichen.