Feines von der Nordsee: Zu Besuch in der Friesischen Wollweberei

Am Eingang der Fabrikhalle stehen hohe Glasgefäße, in denen sich die Wolle auftürmt. Etiketten zeigen, wo die Tiere gegrast haben: in der Mongolei, in Argentinien, in Australien. Und in Friesland. Heinz-Jürgen Gerdes nimmt eine Decke vom Stapel, die Wolle fließt weich über seine Hände. „Diese Wolle kommt aus der Mongolei, die benutzen wir für das Innere“, sagt Gerdes. „Für die Außenseite verwenden wir gern Wolle aus Norddeutschland.“
Um sich ein Bild davon zu machen, wie die Tiere leben, nimmt der Geschäftsführer oft weite Wege auf sich, gerade ist er aus der Mongolei zurück. „Die Nomaden mit ihren Herden in der Steppe zu erleben, war besonders ergreifend“, sagt Gerdes. Die karge Landschaft und die harten Winter stehen im Gegensatz zu den freundlichen Menschen, Gerdes ist beeindruckt von seinen Erlebnissen: „Wenn man mit eigenen Augen sieht, unter welchen Entbehrungen das Material entsteht, geht man noch achtsamer mit dieser wertvollen Naturfaser um.“
Friesische Wolle en masse

Die Faszination für das Weberhandwerk entstand bei Monika und Heinz-Jürgen Gerdes durch den Umzug in den Norden, genauer in der Nähe des friesischen Jadebusens, der Gegend, in der sie ein Haus geerbt hatten. Dass hier in den 1960er-Jahren noch 340 Webmaschinen in vier Webereien standen, wussten sie damals noch nicht.
Zufällig hörten sie von einer insolventen Deckenfabrik im Nachbarort. Die Betriebswirtin und der Designer zögerten nicht lange und wagten den Sprung in etwas Neues. Im niedersächsischen Zetel, wo andere keine Zukunft mehr sahen, eröffneten sie vor drei Jahren mit ihrem Unternehmen Friesische Wollweberei die erste derartige Weberei in Deutschland seit über 50 Jahren. In der Region gehört Schafwolle seit langer Zeit zum täglichen Leben, Schafe grasen in der hügeligen Landschaft, vier bis fünf Kilogramm Wollfell wachsen den Tieren jährlich. Und die müssen natürlich wieder runter.
Mit internationalem Know-How zu höchster Qualität

Ihre Decken produzieren Monika und Heinz-Jürgen Gerdes jetzt unter der Marke Coastland mit reiner Schurwolle, ohne chemische Zusätze oder Kunstfasern. Gesponnen wird langsam, das Weben mit Naturgarn dauert achtmal länger als mit einem Mischgarn, das synthetische Fasern enthält. Der feine Faden der Schurwolle kann leicht reißen, deswegen überwacht Fadi Zaher Aldin die Vorgänge an den Maschinen genau.
Der 43-jährige Syrer hat 20 Jahre in Damaskus in einer Fabrik gearbeitet, in der er aufwendige Muster webte. Seit fünf Jahren lebt er in Deutschland, und vor zwei Jahren erfuhr er, dass in der Friesischen Wollweberei Arbeiter gesucht werden. Jetzt entdeckt Aldin einen Fehler: Er drückt auf einen Knopf, stoppt eine der Maschinen, an der ein Faden gerissen ist, und knüpft ihn wieder zusammen.
Vor ein paar Wochen haben sie oben im Teamraum seine Einbürgerung gefeiert, „Weltoffene Manufaktur“ steht auf einem Zettel an der Tür der gemeinsamen Küche. „Die Textilindustrie hatte immer ein Problem damit, die Leute gut zu behandeln, deswegen gab es auch früher die Weberaufstände“, erzählt Heinz-Jürgen Gerdes.
Bei Coastland wird das Gemeinschaftsgefühl durch gemeinsame Frühstücke gestärkt, die 15 Facharbeiter kommen aus verschiedensten Winkeln der Erde. Es gibt auch Beschäftigte aus Kabul und Kasachstan, aus Mecklenburg-Vorpommern, dem Rheinland und Ostfriesland.
Luzie Müller ist erst seit Kurzem im Team, die Textildesignerin ist für neue Muster zuständig. Kürzlich hat sie sich ein von Grün- und Blautönen dominiertes Streifenmuster ausgedacht, auch eine Erweiterung des Sortiments durch Kissenhüllen und Schals hat sie vorangetrieben. Die Designs von Coastland sind inspiriert von den Farben der Küste: Blau, Weiß, Beige, einige Grautöne. Sie tragen hier Namen wie Friesisch-Blau, Wattgrau, Torfbraun oder Ziegelrot. Gefärbt werden nur 30 Prozent der Wolle, und das passiert in Deutschland so umweltschonend wie möglich.
Coastland: Textilien made in Germany




Seit der Entwicklung von Kunstfasern hat Wolle in der industriellen Fertigung an Bedeutung verloren; Angebote aus Ländern mit niedrigen Löhnen wie Bangladesch oder Indien haben über Jahrzehnte hinweg die deutsche Textilindustrie verdrängt. „Wir müssen uns fragen, ob wir das wirklich wollen und ob es uns gar nichts bedeutet, unsere eigene Textilindustrie zu erhalten“, sagt Heinz-Jürgen Gerdes. Er und sein Team wollen etwas anderes – echtes Handwerk in haltbarerer Qualität, und so wird bei Coastland auch gearbeitet.
Eine Mitarbeiterin beugt sich konzentriert über ein Gewebe und behebt mit Pinzette und Schere kleine Webfehler, bis zu 50 Meter Stoff schafft sie an einem Tag. Wenn sie etwas entdeckt, geht sie kurz nach nebenan zu Fadi und meldet die Unregelmäßigkeit. Lochkarten geben den Maschinen die Muster vor, und jetzt ändert Fadi die Einstellung eines Lochstreifens, damit die Maschine wieder fehlerfrei arbeitet.
„Wir wollen beweisen, dass es möglich ist, in Deutschland zu produzieren“, sagt Heinz-Jürgen Gerdes, und mit internationalen Märkten kennen er und seine Frau sich ganz gut aus. Bevor sie sich dem traditionellen Wollhandwerk zugewendet haben, durchliefen sie Stationen in großen Konzernen unter anderem in New York und Frankfurt.
Die jahrelange Beratung von mittelständischen Unternehmen hat ihnen dabei wertvolle Erfahrungen geliefert, aber sie hat ihnen auch gezeigt, was sie für ihren eigenen Betrieb nicht wollen: Arbeit zur reinen Gewinnmaximierung. Stattdessen setzen sie bei ihrem Produkt darauf, es lokal, transparent und sozial gerecht herzustellen. Bis zu 20 Jahre sollen die Decken halten, und nachhaltig soll die Wolle auch sein. Die Schafe aus der Region werden auf dem Deich zum Küstenschutz gebraucht: Sie fressen das Gras, trampeln den Deich fest und treten die Gänge der Wühlmäuse zu. Bei der mongolischen Wolle ist der Weg länger, aber die natürliche Haltung überzeugt die Unternehmer: keine Antibiotika, Pestizide oder Insektizide und vor allem keine Haltung im Stall.
In vielen Schritten zur fertigen Wolldecke

Ein bisschen Fett bleibt nach dem Waschen in der Wolle, dann haftet der Schmutz sich nicht so an. Die meisten Produktionsschritte vom Waschen und Trocknen bis zum Weben und Nähen finden in der Manufaktur statt, nur die Herstellung des Garns ist derzeit noch ausgelagert.
Der Weg bis zur fertigen Decke ist lang: Nach der Schur wird sortiert, die Qualität der Wolle unterscheidet sich stark. Zunächst wird zwischen den gröberen Deckhaaren und den feineren Haaren an der Körperseite des Schafs unterschieden. Danach wird gewaschen, in zehn Stufen verliert die Wolle immer mehr Schmutz und Fett, ein Großteil des Fettes geht in die Kosmetikindustrie.
Doch ein Teil des Wollfetts, des sogenannten Lanolins, wird in der Wolle zurückbehalten – dadurch nimmt die Wolle keinen Geruch und keinen Schmutz an. Aus der sauberen Wolle lässt Coastland das Garn fertigen und verarbeitet es dann an den eigenen Webmaschinen zu Gewebe. Ein Produkt, das so aufwendig hergestellt ist, hat seinen Preis. Während in Billiglohnländern von schlecht bezahlten Arbeitern häufig unter gesundheitsschädlichen Umständen produziert wird, gibt es bei Coastland anspruchsvolle Handarbeit unter fairen Bedingungen.
Friesländische Wollweberei lädt zu Besichtigungen
Und das bedeutet auch, dass die Kunden die Qualität mittragen müssen. „Wir müssen verstanden werden, sonst haben wir keine Zukunft“, sagt Gerdes. „Im Moment gibt es diese Käufer noch – doch wir müssen die nachfolgenden Generationen überzeugen.“ Die Qualität der Decken können die Kunden im offenen Verkauf in der Manufaktur selbst in Augenschein nehmen, und einmal im Monat werden die Tore für Besichtigungen geöffnet.
Dann kann jeder vorbeischauen und sehen, was sonst verborgen bleibt: die vielen Stunden sorgsamer Handarbeit, die in einer Decke stecken. Bis zu 2.000 Besucher besichtigen die Manufaktur im Jahr, oft sind es Menschen, die sich noch an die Wolldecken aus ihrer Kindheit erinnern und den Verlust dieses Handwerks bedauern.
Viele äußern nicht nur Wertschätzung, sondern auch echte Zuneigung zu den Produkten. Für Monika und Heinz-Jürgen Gerdes zeigen solche Reaktionen, dass das Weben in Deutschland eine Zukunft haben kann. In der digitalen Gegenwart ist das Unternehmen mittlerweile auch angekommen: mit einem Online-Shop.