Unterwegs auf der Seidenstraße: Mit dem Zug durch Zentralasien

Zwischen kargen Berglandschaften und Metropolen auf der Überholspur, zwischen unbekannten Traditionen und wegweisendem Erfindergeist: Mit dem Orient Silk Road Express begibt sich Merian-Autor Johannes Teschner auf abenteuerliche Reise durch Zentralasien und entdeckt die alten Oasen entlang der historischen Seidenstraße. 
Text Johannes Teschner
Datum09.05.2025

Mitten in Samarkand, metertief unter der Erde, liegt ein Schatz der Republik Usbekistan und verdirbt. Um zu ihm zu gelangen, geht es mehrere Treppen hinab, dann durch eine schwere Holztür in einen düsteren Kellerraum, in dem es leicht säuerlich riecht. Dort steht die Kostbarkeit, doch so dick ist die Staubschicht, die sie umgibt, dass erst auf den zweiten Blick auszumachen ist, worum es sich handelt: um hunderte Flaschen Wein. 

Seit mehr als 100 Jahren lagern sie hier, kühl und dunkel, sorgfältig gestapelt in Vertiefungen im Gemäuer. Um sie vor den sozialistischen Revolutionären zu retten, die 1917 die Macht in Moskau an sich rissen und fortan ungezählte Klassenfeinde enteigneten, versteckten die Besitzer des Weinguts sie in dem geheimen Raum. Usbekistan gehörte seit dem 19. Jahrhundert zum russischen Herrschaftsgebiet. In den Wirren der Zeit gerieten die Weinflaschen in Vergessenheit, bis zu ihrer Wiederentdeckung 1967. Ein Sowjetfunktionär – Usbekistan war mittlerweile Teil der UdSSR – entschied, den Fund dort zu belassen, wo er war. Und auch nachdem das Land 1991 seine Unabhängigkeit erlangte, blieb es dabei. 

Abenteuer Seidenstraße: Start in Usbekistan

Mehrmals im Jahr bricht der Sonderzug Orient Silk Road Express zu spannenden Reisen entlang der historischen Handelsroute auf.

Alle paar Jahre werden die Flaschen seitdem neu gekorkt, dann kosten staatlich ernannte Experten fünf Milliliter von jedem der Weine. Ist einer vergoren, wird er entsorgt. „Diese Flaschen sind ein Nationalgut“, erklärt Odil Muxamadiev, der heute das Weingut leitet. „Sie gehören allen Usbeken. Kein Einzelner hat das Recht, sie zu trinken.“ Natürlich sei es schade, die Weine nach und nach verkommen zu lassen, meint der 62-Jährige, der selbst zu den offiziellen Verkostern gehört. Aber der Wein stehe nun mal für Größeres, für die gemeinsame, oft harte Geschichte der Usbeken. Und außerdem, fügt er an, gebe die Gegenwart ja genug her, um dem Gaumen zu schmeicheln. 

300 Sonnentage im Jahr machen Usbekistan zu einem ertragreichen Anbaugebiet für Weine. „Wir exportieren nach China, Japan, Korea, Russland, auch nach Europa“, sagt Muxamadiev. „Und wir werden hoffentlich noch mehr Märkte erobern.“ Auf seine Art steht Muxamadievs Weingut für das heutige Usbekistan: für den Zusammenhalt der jungen Nation; und für die Öffnung nach außen nach dem Ende von Moskaus eisernem Griff. 

Bis auf Turkmenistan, eine ziemlich abgeschottete Diktatur, gilt dieser Zweiklang von Nationalstolz und Öffnung mehr oder minder für alle Länder Zentralasiens. Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan und Tadschikistan zeigen, was sie zu bieten haben und streben aus dem touristischen Schattendasein ans Licht. Sie zu bereisen ist allerdings immer noch ein kleines Abenteuer. Die Region zwischen dem Nahen Osten und China ist riesig, Sprachen und Umgangsformen sind für viele Reisende ohne Übersetzung kaum verständlich, die Infrastruktur ist jenseits der Städte noch rudimentär. 

Was ist die Seidenstraße?

Die Seidenstraße war ein bedeutendes historisches Handelsnetzwerk, das ab dem zweiten Jahrhundert v. Chr. China mit Europa und dem Nahen Osten verband. Besonders in Zentralasien spielten Städte wie Samarkand, Buchara und Taschkent in Usbekistan sowie Merw in Turkmenistan eine wichtige Rolle als Knotenpunkte für den Austausch von Waren wie Seide, Gewürzen und Edelsteinen, aber auch für die Vermittlung von Kultur, Religion, Wissen und Handwerk. 

Bis ins  13. Jahrhundert förderte die Seidenstraße somit nicht nur wirtschaftlichen Handel, sondern auch den Austausch von immateriellen Gütern und beeinflusste so die verschiedenen Zivilisationen entlang ihres Verlaufs. Heute werden besonders sehenswerte Abschnitte des alten Handelsweges zunehmend für den internationalen Tourismus reaktiviert. 

Erster Halt Samarkand

Abends leuchtet der Registan-Platz in Samarkand wie eine Schatzkiste.

Eine gute Option, um viel zu sehen von diesen Ländern, ist ein fahrendes Hotel – der Orient Silk Road Express – ein komfortabler Zug mit Restaurant und Schlafkabinen. Diese Reise folgt den Schienen vom usbekischen Qarshi bis nach Almaty, in die größte Stadt Kasachstans. Und erster größerer Stopp ist Samarkand

Dass Zentralasien schon zur Zeit der historischen Seidenstraße ein Treffpunkt von Menschen unterschiedlichster Kulturen war, wird an kaum einem Ort so deutlich wie am Registan, mitten in der Stadt. Den zentralen Platz der Stadt rahmen drei kolossale Gebäude, erbaut als Koranschulen ab dem späten Mittelalter und sorgsam restauriert im 20. Jahrhundert. Ihre gewaltigen Kuppeln, Türme, Fassaden und Spitzbögen, verziert mit kunstvoll bemalten Fliesen, strahlen blau, grün und türkis in der Sonne.

Über den Platz fliegen Sprachfetzen: Deutsch, Englisch, Russisch, Französisch. Eine kasachische Studentin mit Kopftuch macht Bilder für ihren Instagram-Account, eine Französin posiert im Kostüm, und immer wieder kommen usbekische Hochzeitspaare in Anzug und Brautkleid, um sich vor der abendlichen Feier am Registan fotografieren zu lassen. In den ehemaligen Lehrräumen und Zimmern der Koranschüler bieten Kunsthandwerker, Musiker, Schneider und Café-Betreiber ihre Waren an. Aus einer Teestube dringt der Duft von Jasmin und Nelken.

Der Islam ist zurück am Registan

Diese beiden Studentinnen kommen aus Turkmenistan, das südlich von Usbekistan liegt – und besuchen passend gekleidet den Registan-Platz.

Vor seiner Werkstatt tunkt der Schönschreiber Abdujalil ibn Umar einen angespitzten Bambusstab in ein Tintenfass und notiert damit in arabischer Schrift Koranverse auf Ziegenleder. Schon mehrmals, sagt der bärtige 63-Jährige, der Kaftan und Turban trägt, habe er die heilige Schrift der Muslime in Gänze auf Papierrollen gebannt. Sammler würden 30.000 Dollar dafür zahlen. Seit dem Ende der Sowjetzeit, in der die Religion unterdrückt wurde, ist der in Zentralasien tief verwurzelte islamische Glaube wieder erstarkt, wird in tausenden Moscheen gepredigt. Man dürfe den Koran aber nicht streng Wort für Wort auslegen, meint Umar. „Wir leben in modernen, toleranten Zeiten, und auch der Islam muss sich weiterentwickeln“, sagt er lächelnd zum Abschied. 

Am Abend tauchen Scheinwerfer den Registan in warmes Licht. Unzählige Hirtenstare sammeln sich auf den umliegenden Bäumen und zwitschern. Sie erzählen sich vom Tag, sagen die Usbeken. Die Brautpaare sind gegangen, nicht alle feiern in Samarkand, das einst als Oasenstadt und Knotenpunkt der Seidenstraße groß wurde; manche kommen aus umliegenden Gebieten, haben mitunter einen beschwerlichen Weg vor sich. Zwar ist Usbekistan mit rund 35 Millionen Einwohnern das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Zentralasiens. Doch das heißt nicht viel in dieser dünn besiedelten Weltgegend, in der Kasachstan, der neuntgrößte Staat der Erde, gerade mal 19 Millionen Einwohner zählt. 

In Usbekistan, deutlich größer als Deutschland, fährt der Silk Road Express jenseits von Samarkand stundenlang durch Steppen und Wüsten, Gras- und Berglandschaften. Deutlich mehr Kühe, Ziegen, Schafe, Esel und Pferde als Menschen sind aus dem Zugfenster zu sehen. In den ländlichen Gebieten leben die meisten Menschen von der Viehzucht. 

Durch die schroffen Berge von Kirgistan

Früher zogen hier die Händler der Seidenstraße mit ihren Kamelen durch, transportierten Waren von China nach Europa und zurück. Eines der exklusivsten Güter des Fernen Ostens, die Seide, gab dem historischen Handelsnetz seinen Namen. Eine Strapaze für Mensch und Tier war das, besonders östlich von Usbekistan, im heutigen Kirgistan, wo aus dem Silk Road Express jetzt die schroff und steil aufragenden Gipfel des Himmelsgebirges sichtbar werden. Der gewaltige Höhenzug Tian Shan erstreckt sich über weite Teile Zentralasiens. 

Kein Land prägt er so wie Kirgistan, das Reich der Himmelsberge, das fast komplett über 1.500 Meter Höhe liegt. Usbekistan hat die Kultur, Kirgistan die Natur, heißt es in Zentralasien oft. Natürlich bieten auch Kasachstan und Tadschikistan urbanen Reiz und beeindruckende Landschaften, etwa in der kasachischen Millionenmetropole Almaty oder bei den pittoresken tadschikischen Marghusor-Seen. 

Aber es stimmt schon: Usbekistan und Kirgistan zeigen Zentralasiens Charakteristika wie unter dem Brennglas. Kirgistan ist das ursprünglichste Land der Region, die nomadischen Wurzeln sind in der kirgisischen Bevölkerung besonders spürbar. Etwa wenn sich die Bewohner der Bergdörfer zum traditionellen Volkssport treffen: dem Kök-Börü, auch Ziegenpolo genannt. Dabei treten zwei Teams aus je vier Reitern gegeneinander an. Ziel ist es, eine frisch geschlachtete Ziege ohne Kopf und Beine in die runde Zielmarkierung des gegnerischen Teams zu werfen.

Seidenstraße: Rundreise durch Zentralasien

Die beste Option für Flüge nach Samarkand in Usbekistan ist aktuell mit Turkish Airlines über Istanbul. Startflughäfen sind neben einigen weiteren München, Frankfurt und Berlin. Die Flugdauer beträgt inklusive Zwischenstopp mindestens neun Stunden, am günstigsten ist es, gegen Abend zu starten und ab Istanbul über Nacht zu fliegen. Auch für die Rückreise ab Almaty in Kasachstan bietet sich ein Flug mit Turkish Airlines über Istanbul an oder ein Direktflug mit Lufthansa nach Frankfurt an.

Eine Individualreise in Zentralasien ist kein leichtes Unterfangen. Das Straßennetz ist mangelhaft, der Verkehr mitunter chaotisch, die Beschilderung, auch jene, die zu großen Sehenswürdigkeiten führt, eher lückenhaft. Und längst nicht überall kann man Englischkenntnisse voraussetzen. 

Wer es etwas weniger abenteuerlich möchte, findet im Orient Silk Road Express eine gute Alternative: Der Sonderzug des Anbieters Lernidee Erlebnisreisen fährt mehrmals im Jahr zwei Wochen lang durch Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan. Mahlzeiten und Übernachtungen finden im Zug statt, tagsüber fahren die Passagiere in Kleinbussen zu verschiedenen Ausflugszielen. Allein fünf UNESCO-Welterbe-Stätten (Samarkand, Buchara, Chiwa und Shahrisabz, das Mausoleum von Hodscha Ahmad Yasawi in Türkistan in Kasachstan) stehen auf dem Programm. 

Auf eine Partie Kök-Börü

Ländliche Tradition: Beim Kök-Börü, Ziegenpolo, kämpfen die Reiter um einen Ziegenkadaver.

Vor schneebedeckten Gipfeln, zu deren Füßen die Blätter vereinzelter Pappeln in der Sonne glühen, galoppieren acht Freunde an einem schönen Samstagmorgen über das sandige Spielfeld, rangeln um den rund 35 Kilogramm schweren Ziegenkadaver, verteidigen, kontern und bejubeln jeden erzielten Punkt. 

„Eine gute Partie“, sagt Janybek Marat Ulu und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich, erzählt der 27-jährige Viehzüchter, habe er sich nach schweren Stürzen, Knochenbrüchen und einer Gehirnerschütterung geschworen, das Kök-Börü sein zu lassen. Aber er liebe das Spiel zu sehr. Schon als kleiner Junge habe er den Erwachsenen zugeschaut, die damals manchmal noch mit erlegten Wölfen statt mit Ziegen spielten. „Das Kök-Börü gehört einfach zu uns“, sagt er, „es liegt uns im Blut.“ Fast könnte man meinen, in den Bergen Kirgistans habe sich seit Generationen kaum etwas verändert. Dabei sind hier in den vergangenen Jahren etliche Gasthäuser entstanden. Immer öfter, sagt Marat Ulu, kämen jetzt Touristen wie diese Zug-Reisegruppe, um bei einer Partie Kök-Börü zuzuschauen. 

Dann beginnt es in seinem rechten Reitstiefel zu klingeln. Er zieht ein Handy daraus hervor, telefoniert kurz. Ein Mannschaftskamerad war dran. Ulu solle sich beeilen, ein Festessen stehe an. Bei der Kök-Börü-Partie bekommen die Sieger den Ziegenbraten, so ist es Brauch. Tradition und Moderne liegen nah beieinander in Kirgistan. Das wird deutlich, als der Zug von der Gegend rund um das sandige Kök-Börü-Spielfeld rund 150 Kilometer nach Westen fährt, nach Bischkek, in die kirgisische Hauptstadt. 

Aufbruchsstimmung in Kirgistan: Die Visionäre von Bischkek

Wachsendes Stadtleben: der Co-Working-Space Ololo mit Café in Bischkek.

Dort, in der von sowjetischen Betonbauten geprägten Millionenstadt, in der rund jeder siebte Kirgise lebt, steht an einer vom Verkehr verstopften Straße der Co-Working-Komplex Ololo. Auf fünf Stockwerken arbeiten dort junge Programmierer, Ökonomen, Designer und Wissenschaftler an ihren Projekten, versuchen Start-ups zum Fliegen zu bringen, halten Vorträge, veranstalten Diskussionsrunden. Viele von ihnen haben im Ausland studiert, ihr Englisch ist geschliffen. Was sie eint, ist der Anspruch des nachhaltigen Wirtschaftens – ein Thema, das in Zentralasien, das unter anderem mit Luftverschmutzung und Wasserknappheit zu kämpfen hat, bisher eher wenig Beachtung gefunden hat. Im Ololo aber ist es allgegenwärtig, ist jedes Stockwerk nach einem schützenswerten Lebensraum benannt, von der Tiefsee bis zum Himmel.

 „Hier kommen junge Leute zusammen, die etwas verändern wollen“, sagt Tynystan Niiazakunov. Der 28-Jährige hat in Chemnitz Informationstechnik studiert, arbeitet heute für deutsche Autobauer am automatisierten Fahren und hofft, dass selbstfahrende Autos und Busse in nicht allzu ferner Zukunft auch den Verkehr in Bischkek effizienter und umweltfreundlicher gestalten können. „Es gibt so viel Talent, so viel Potenzial und Aufbruchsstimmung in Kirgistan, in ganz Zentralasien“, sagt er. „Aber wir müssen in der Welt noch mehr wahrgenommen werden.“ Den wachsenden Tourismus sieht er als Chance. Je mehr Besucher nach Zentralasien kämen, meint er, desto mehr kurble das die Wirtschaft an und desto mehr Aufmerksamkeit bekäme die ganze Region rund um die Seidenstraße. „Die Menschen hier“, sagt er, „hätten es verdient.“