Tide, Watt und Weite: Das Chausey-Archipel

Der höchste Tidenhub Europas veranstaltet im Chausey-Archipel jeden Tag ein Naturschauspiel: Hunderte Inseln tauchen auf – und wieder ab. Merian-Autorin Sylvia Tsyburski erzählt, was die Gegend und ihre Menschen ausmacht und warum hier alle barfuß laufen.
Text Silvia Tyburski
Datum18.07.2025

„Die Einheimischen erkennen Sie daran, dass die sich nach der Ankunft auf der Insel ihre Schuhe ausziehen“, sagt Laurence Megale, Hotelbesitzerin auf der Insel Chausey im Südosten der Bucht von Mont-Saint-Michel. „Sie sind so aufgewachsen, manche laufen sogar im Winter barfuß.“ 

Viele andere verlassen die Fähre aus Granville in Flipflops, Sneakern und Wanderschuhen. Vogelfreunde haben ein Fernglas dabei. Und die Menschen mit Gummistiefeln, Kühlbox und Grabegabel reisen an, um Austern, Schnecken und Muscheln zu suchen. 

„Peche à pied“, Gezeitenfischerei, nennen sie das hier, erklärt Laurence Megale. An kaum einem anderen Ort in Frankreich kann man so gut Meeresfrüchte sammeln wie in der 500 Quadratkilometer großen Bucht, wo der größte Tidenhub Europas herrscht: bis zu rund 14 Meter. 

Chausey: Das Wasser geht, die Inseln kommen

Die Ebbe rund um die Île Chausey legt den Meeresboden frei.

Bei Ebbe liegen riesige Flächen Meeresboden frei, auf dem Besucherinnen und Besucher dann rund um die kleinen Inseln des Chausey-Archipels wandern. Es ist ein faszinierendes Schauspiel. In Megales Hôtel du Fort et des Îles, dem einzigen Gasthaus der Insel, sitzen die Gäste zwischen kleinen Palmen auf der Terrasse oder drinnen am großen Panoramafenster, während das Meer, das eben noch Chausey umspülte, sich wie im Zeitraffer zurückzieht und immer neue Inseln freilegt. 52 sind bei Hochwasser zu sehen, bei Niedrigwasser sind es 365. Die Landschaft verwandelt sich von fast karibischem Türkisgrün in ein urtümliches Grünbraun. 

Felsen, Sandbänke und Boote fallen trocken, Wege durch den Archipel entstehen. Im Norden von Chausey ist bei klarem Wetter die Küste der britischen Jersey-Insel erkennbar, auf der Südseite der Umriss von Mont-Saint-Michel, gut 35 Kilometer Luftlinie entfernt. Die 157 Meter hohe Klosterinsel wirkt von hier so winzig wie ein Sandhaufen, den ein Wattwurm aufgeworfen hat. Das ikonische Benediktiner-Kloster wurde im Mittelalter aus Granit gebaut, der von den Chausey-Inseln stammt, genauso wie mancher Bürgersteig in Paris, Kaimauern im Hafen von London und die Stadtmauer von Saint-Malo. 

Baruß ins Meer: Wattwanderung ab Chausey

Bei Ebbe können Besucher mit einem Guide zwischen den Inseln wandern.

Bis zu 600 Arbeiter schufteten früher in den Steinbrüchen des Archipels. An den Kerben und Schnittflächen einiger Granitfelsen ist noch immer sichtbar, wo die Blöcke herausgeschlagen wurden. Der Steinbruch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt. Die Schule schloss 1972, der letzte Bauernhof stellte sieben Jahre später den Betrieb ein. „Ich erinnere mich noch an die Kühe, die hier bei Ebbe unten im Watt standen. Wir kauften damals unsere Milch und unser Gemüse beim Bauern“, erzählt Laurence Megale, die im Winter in Nizza wohnt, aber viele Sommer ihres Lebens auf der Insel verbracht hat. 

Heute hat Chausey noch zehn Einwohner, die das ganze Jahr über dort leben. Im Sommer sind es 200 – und ein Vielfaches an Tagesgästen, seit 2024 gilt ein Limit von 2.000. Bei Hochwasser kann es in der Hauptsaison auf der zwei Kilometer langen und 200 bis 700 Meter breiten Insel eng werden. Ein guter Startpunkt für eine Wattwanderung auf der Westseite ist der Plage de la Grande Grève, ein Sandstrand, der auf der Karte aussieht wie das aufgerissene Maul eines seltsamen Meereswesens. Links liegt die Formation, die sie hier „Mönchsfelsen“ nennen, weil einige der Steine an einen knienden Menschen mit zum Gebet gesenktem Kopf erinnern. Rechts steht der „Elefantenfelsen“.

Unterwegs in einer Mondlandschaft

Die Stille ist überwältigend. Nicht mal das Kreischen der Möwen ist zu hören, vielleicht sind sie dem ablaufenden Wasser gefolgt. Seine Bewegung hat auf dem Meeresboden kein zart geriffeltes Muster hinterlassen, sondern gut zehn Zentimeter tiefe Rillen aus Sand. Darauf liegen Felsen, die vollkommen mit braunem Blasentang überwachsen sind. In dieser Mondlandschaft mit ihren von Mensch und Meer geformten Felsen springt sofort die Fantasie an. 

Ein Fels erinnert an ein Chamäleon, ein anderer an Auguste Rodins Skulptur „Der Denker“. Wie schön wäre es, stundenlang weiter von einem zum nächsten zu wandern. Doch irgendwann kommt das Wasser zurück. Und das geht schnell. 

Am nächsten Morgen läuft bei etwa zwölf Grad ein Mann in Jeans und blauem Troyer-Pullover ohne Schuhe die Hafenmole entlang. Hervé Hillard hat sich im Insel-Laden frisches Weizenbrot geholt, das die Morgen-Fähre zusammen mit anderen Waren geliefert hat. „Ich habe euch gestern dort draußen gesehen“, sagt er. „Ihr hättet noch locker weiter rausgehen können, ohne dass die Flut euch einholt.“ 

Hillard weiß mehr über das Meer und die Insel als die meisten, beides kennt er schon sein ganzes Leben. Sein Urgroßonkel war vor fast 100 Jahren der Priester von Chausey. Hillard wohnt heute im selben Haus wie seine Vorfahren, gemauert aus Granitsteinen, ohne Heizung, ohne Fernseher. „Was soll ich mit einem Fernseher? Das dort ist mein Fernseher“, sagt er und deutet zum Fenster. Als Fotograf sei er in seinem Leben um die ganze Welt gereist, erzählt er. „Alaska, Südafrika, Island … Aber ich habe nirgendwo einen Ort gefunden, an dem es so schön ist wie hier.“ 

Nur die Fasane, die frei herumlaufen und seinen Gemüsegarten ruinieren, die seien wirklich lästig. „Die Insel zieht dich in ihren Bann. Länger als eine Woche kann ich nicht weg sein, sonst tut es hier zu sehr weh“, sagt er und legt die Hand auf die Brust. „Ihr werdet schon sehen, wenn ihr morgen wieder wegfahrt.“ Wer Sehnsucht nach Chausey bekommt, kann Hervé auf Instagram finden, wo er immer wieder Fotos von der Insel postet. Sein Profilfoto zeigt eine Weltkarte, auf der er steht. Natürlich barfuß.

Reise-Tipps für Chausey

Anreise 

Dreimal täglich von April bis Oktober setzt eine Fähre von Granville nach Chausey über (Fahrtzeit rund eine Stunde). Im Winter fahren die Boote mittwochs, samstags und sonntags. Unterwegs sind mit Glück Delfine zu sehen. Die Fährgesellschaft bietet auch Fahrten zum Mont-Saint-Michel und Touren um den Chausey-Archipel an. 

vedettesjoliefrance.com

Hotel du Fort et des Îles 

Laurence Megale und ihr Mann Vincent sind herzliche Gastgeber, die acht Zimmer sind hell und liebevoll eingerichtet und bieten bis zu vier Personen Platz. Besonders schön ist das etwas größere namens Grand Romont mit Meerblick. Die Halbpension ist obligatorisch. 

hotel-chausey.com

Mercure Granville Le Grand 

Vor oder nach einem Insel-Besuch lohnt es sich, einen Tag in Granville zu verbringen, der Stadt auf dem Festland, zu der Chausey gehört. Besonders hübsch ist die Unterstadt mit vielen Geschäften und dem Hafen. In der Oberstadt liegen die Kirche Notre-Damedu-Cap-Lihou und das ehemalige Wohnhaus von Christian Dior. Das Hotel bietet Sauna, Fitnessraum und einen Frühstücksraum mit Blick auf den Ärmelkanal. 

all.accor.com

Restaurant La Table de Louis 

Kronleuchter und Samtsessel werden kombiniert mit Feuerholzstapeln, die den royalen Glanz durch Hüttenromantik ergänzen. Vor allem Fisch- und Meeresfrüchte-Aficionados speisen hier königlich. Das Risotto ist fabelhaft.

restaurant-latabledelouis.com

Zu Fuß zum Mont- Saint-Michel 

Von Genêts, südlich von Granville, führen Guides Touristen bei Ebbe quer über die Bucht bis zur Klosterinsel (auch zu Pferd). Auf keinen Fall sollte man auf eigene Faust durchs Watt gehen. 

decouvertebaie.com

Kajak fahren 

Zwischen Mai und September zeigt der Fischer Ian Wood Besucherinnen und Besuchern den Archipel vom Kajak aus. Seine Touren dauern zwei bis fünf Stunden, eine gewisse Fitness vorausgesetzt, sind sie ein großer Genuss. 

tourisme-granvilleterre-mer.com