Abschalten, bitte! Was es mit dem Trend Digital Detox auf sich hat

Am besten, das ist bekannt, lässt sich im Urlaub abschalten. Immer häufiger tatsächlich im doppelten Sinne: Die Reisebranche entdeckt Digital Detox als Konzept und begrüßt ihre Gäste herzlich – bei schlechtem Empfang.
Text Eva Biringer
Datum03.09.2025

Die Ankunft im Paradies bedeutet in der aktuellsten Staffel der Wohlstands-Neurosen-Serie „The White Lotus“ erst mal einen Schock. Kein Wi-Fi im thailändischen Luxusresort? „Wir laden Sie ein, den Fokus auf die Gegenwart, Ihre Mitmenschen und Selfcare zu legen“, wird zur Begrüßung erklärt. Am besten sei es, die Gäste legten ihre Smartphones bis zum Ende der Woche in einen Safe. Selbstverständlich: „Nur ein Vorschlag.“ Einer, den der notorisch gestresste Manager-Dad nicht annimmt, ebenso wenig wie sein pornosüchtiger Sohn. Die Angst davor, keinen Zugriff auf sein Handy zu haben, hat einen Namen: Nomophobie, kurz für no mobile phone phobia. 

Die Gäste eines anderen Luxus-Hideaways, das es wirklich gibt, wissen, worauf sie sich einlassen. Ankunft in Ehrwald, Tirol, knapp unterhalb der Zugspitze. Nur wenige Meter Sicht erlaubt der dichte Nebel. Die letzte Strecke ab dem Gondelausstieg wird zu Fuß zurückgelegt – im Winter auf Schneeschuhen oder auf Wunsch mit dem Schneemobil. Das Gefühl, vollständig getrennt von der restlichen Welt zu sein, wird potenziert durch den simplen Umstand eines offenbar fehlenden WLAN. In Wahrheit gibt es sehr wohl eines, allerdings versteckt. Die Botschaft ist klar: einfach mal abschalten. 

Urlaubsziel: Analoge Erholung bis in den letzten Winkel

Monotonie bei 36 Grad, der Wassertemperatur im Panoramapool des Eriro

Dazu passt alles im Eriro, so heißt diese Ausnahmeerscheinung von einem Gästehaus. Sie wird von drei befreundeten Familien betrieben. Und analog ist hier King, morgens fällt der Blick aus dem Bett auf die Berge. Erster Kaffee? Statt zur Nespressomaschine greifen Gäste zum Handfilter. Beim Frühstück mit Vollkornwaffeln und hausgemachtem Ziegenkäse liegen Zeitungen bereit. Wer sich danach im Fitnessraum auspowern will, findet Geräte vor, die zweierlei gemeinsam haben: Sie sind aus Holz und haben kein Display. Auch auf den Zimmern sucht man Fernseher oder iPads vergeblich. In dem ganzen Gebäude, jedenfalls jenem Teil, in dem sich Gäste aufhalten, gibt es nur einen einzigen Bildschirm, und zwar in dem mit Heu verkleideten, mit Hirschleder-Infrarot-Liegen ausgestatteten Spa-Ruheraum. Dort läuft in Endlosschleife ein Bergvideo. Es wird sehr gerne angeguckt, das Eriro steht hoch im Kurs. So wie das ganze Thema Digital Detox. Schuld sind vor allem Smartphones. 

Wieso Digital Detox als Gesundheitstrend funktioniert

Wer will da noch Berge versetzen? Einer der vielen hervorragenden Ausblicke aus dem Eriro Alpine Hide in Ehrwald, Tirol

150 Minuten beträgt in Deutschland die durchschnittliche Bildschirmzeit, bei jüngeren Menschen sind es mehr als drei Stunden. Einer Studie der Universität Wien zufolge begünstigt der durch soziale Netzwerke und Messengerdienste bedingte „information overload” depressive Symptome und wirkt sich allgemein auf das Wohlbefinden aus. Mehr als ein Drittel aller Deutschen plant aktuell eine digitale Auszeit, 2021 waren es gerade mal neun Prozent. Dass viele ihren Vorsatz nicht durchhalten, liegt unter anderem an scheinbaren Zwängen – Arbeitsmails, Elternchats, Staubsaugerroboter. Irgendwas ist immer. 

Naheliegend also, stattdessen kompakt außerhalb des Alltags abzuschalten. Die weltweiten Suchanfragen nach „Digital Detox Retreats“ verdoppelten sich 2023 im Vergleich zum Vorjahr und dürften weiter steigen. Auch der Kayak-Report zu Reisetrends bis 2030 stellt eine erhöhte Nachfrage nach „Wellnessreisen mit Fokus auf Entspannung und Gesundheit“ fest. Beliebte Destinationen dafür sind das in weiten Teilen noch recht ursprüngliche Albanien oder abgelegene Regionen in der Mongolei. Ebenso gewinnt Silent Travel an Bedeutung, eine Reiseform, die den Luxus echter Stille in den Mittelpunkt stellt.

Indische Aschrams sind sehr beliebt oder Seminare in Vipassana, so heißt eine buddhistische Meditationstechnik. Bei Ankunft geben Teilnehmende sowohl Laptop als auch Smartphone ab, um zehn Tage der sogenannten edlen Stille zu widmen. Für den Körper sind diese Meditationsmarathons alles andere als eine Erholung – in Summe zehn Stunden bewegungsloses Sitzen pro Tag –, für den Geist dafür umso mehr. 

Abschalten auf Kommando: Verschiedene Arten des Digital Detox

Ruhepol auf der Ehrwalder Alm: Das Eriro empfängt nur wenige Gäste.

Es geht aber auch ohne eingeschlafene Beine und Sprechpause. Die Idee, wie in der eingangs beschriebenen „White Lotus“-Szene beim Einchecken die digitalen Endgeräte einzusacken, ist nicht neu. Umgesetzt wird sie etwa von einer kalifornischen Luxuserholungskette, die einen „kompletten Gesundheitsreset“ verspricht, Dopaminfasten inbegriffen. Damit steht The Ranch Malibu in direkter Tradition von Levi Felix und Brooke Dean, die mit ihren 2012 initiierten handyfreien Camps als Erfinder des Digital Detox gelten – ausgerechnet im Silicon Valley. 

Andere Häuser setzen zusätzliche Anreize, indem sie wie das sauerländische Familienhotel Ebbinghof einen Preisnachlass von bis zu 500 Euro all jenen gewähren, die bis zur Abreise ihr Handy in Gewahrsam lassen. Oder sie spendieren wie die Hubertus Alpin Lodge & Spa ein Stück Allgäuer Bergkäse. Auch Elektrosmog ist ein Thema. So investierte das Garmisch-Partenkirchener Hotel Quartier bei seinen Lodges in eine smogreduzierende Bauweise und in der zum Brenners Park-Hotel gehörenden Villa Stéphanie in Baden-Baden entscheiden die Gäste per Knopfdruck selbst, wann sie sich vom Stromnetz abkoppeln wollen.

Digitale Askese in der Natur

Sonnenterrasse oder Kachelofen? Die Stube Ida im Vigilius hat beides und serviert Südtiroler Klassiker.

Alternativ lassen sich Orte aufsuchen, an denen das Funknetz miserabel und WLAN ein Fremdwort ist. Zum Beispiel im slowakischen Bergdorf Kysuce, rund 250 Kilometer nördlich von Bratislava. Von zehn Häusern sind zwei bewohnt, die restlichen zu mieten. Die Stille wird nur vom sprudelnden Bergbach unterbrochen. Der Handyempfang reicht maximal für SMS. Manche nennen es Black-hole-Urlaub.

Noch expliziter hat sich ein Vorarlberger Dorf der digitalen Askese verschrieben, und zwar sowohl für Touristen als auch für Einheimische. Fünf Tage dauern die Retreats in Gargellen, dem höchstgelegenen Ort des Montafon, hinzu kommen zehn Tage Vor- sowie dreißig Tage Nachbetreuung. Finanziert wird das „Offline-Dorf“ mit öffentlichen Geldern in Kooperation mit Forschungsinstituten, „Innovatoren“ und Tourismusstellen. Von „wissenschaftlich fundierten Digital-Balance-Urlaubserfahrungen“ ist da die Rede, von einem „innovativen, klimaresistenten und nachhaltigen touristischen Ganzjahresangebot im Sinne des Resonanztourismus“. Ausgedacht hat sich das die österreichische Kommunikationsdesignerin Linda Meixner. 2018 verzichtete sie 36 Tage auf ihr Smartphone und gründete anschließend das Offline Institute. Für ihre Doktorarbeit untersucht sie nun, inwiefern der Tourismus für einen bewussteren Umgang mit smarten Geräten genutzt werden kann.

Es erschließt sich leicht, warum viele Digital-Detox-Angebote im alpinen Raum angesiedelt sind. Mit ihrer majestätischen Präsenz inspirieren die Berge zum Durchatmen und Innehalten. Weiteres Plus: Der Empfang ist schlecht. So auch im Vigilius Mountain Resort, einem von Matteo Thun entworfenen Fünfsternehaus in den Dolomiten. Autos sind auf dem Vigiljoch verboten, die Anreise erfolgt maximal entschleunigt mit der Seilbahn. Ein lang gezogener Glasbau, wie ein sich in der Sonne räkelnder Riese, im Inneren weder WhatsApp-Gebimmel noch Businessgespräche. Piazza, Spa und Restaurant gelten als digitalfreie Zonen, in der Bibliothek stehen schlicht und einfach echte Bücher. Das Handy ganz abzugeben ist hier freiwillig, ab 23 Uhr aber sind alle offline, dann wird im ganzen Haus das WLAN abgeschaltet. Bei Firmen kommt die Idee besonders gut an, sie buchen ihre Mitarbeitenden für Offlinemeetings ein.

Was ist eigentlich Digital Detox?

Zugegeben – Digital Detox ist ein dehnbarer Begriff. Er umfasst alles vom abgeschiedenen Bergdorf über das Waldbaden-Tropenresort bis hin zu Gigacity-Hotels wie das Hongkong Mandarin Oriental, dessen gleichnamige Retreats De-Stress-Massagen und Denksportspiele umfassen, ein Angebot, das dem Group Spa Director zufolge hauptsächlich von Frauen genutzt wird. Fraglich jedoch, ob dessen Gäste es schaffen, beim Streifzug durch die Siebeneinhalb-Millionen-Metropole auf eine Landkarte statt Google Maps zu vertrauen. Schließlich ist nicht alles Digitale zwangsläufig Ablenkung, sondern, gerade auf Reisen, schlichtweg praktisch. 

Damit den digitale Dauerüberflutung Gewohnten nicht langweilig wird, lassen sich Hotelteams eine Menge einfallen, oft geht es raus in die Natur. Wer lieber drinnen bleibt, wird dazu angeregt, die Hände anders zu nutzen als beim Scrollen oder Tippen. Im Kreativraum des Eriro stehen Staffeleien und Zeichentische bereit, eine Einheimische gibt Töpferkurse. Faszinierend, wie durch beharrliches Glattstreichen aus einem Lehmklumpen eine Schale entsteht. Weil Trocknen und Brennen dann doch länger dauern als ein Durchschnittsaufenthalt, werden den Gästen die fertigen Werke einige Wochen später per Post zugeschickt.

Gleichzeitig spielt auch das Nichtstun, Nichtsdenken, die sogenannte mindfulness eine Rolle. Die will gelernt sein, in Form von Yoga, Meditation, Waldbaden oder anderen Achtsamkeitsübungen. Die dritte Säule im Kampf um die Rückeroberung der Aufmerksamkeit ist eine wohltuende Ernährung. Clean eating meint den Verzicht auf Zucker, Weißmehl und hochverarbeitete Produkte. So versorgt das in Bezau im Bregenzerwald gelegene, von Susanne Kaufmann betriebene Hotel Post die Gäste seines Digital-Detox-Retreats mit Suppen, Säften und Overnight-Oats – allerdings nicht vor Ort, sondern zu Hause, das Retreat ist nämlich ein digitales (und die Doppeldeutigkeit schon recht kurios). Auch Ayurveda- oder Fastenkuren haben Hochkonjunktur, gerade in Kombination mit bewusster Unerreichbarkeit.

Morgens, mittags, abends: Immer mit der Ruhe

Wie sich das im Urlaub erlebte Digital Detox auf die Stimmung auswirkt, untersuchten britische und neuseeländische Wissenschaftler 2019: Bereits nach vierundzwanzig Stunden berichteten viele Reisende von Angst über Frustration bis hin zu Entzugserscheinungen. Es folgten Akzeptanz, Genuss und Gefühle der Befreiung, außerdem kam es zu mehr Austausch mit Mitreisenden und Einheimischen. 

Natürlich wäre es gut, wenigstens einen Teil der im Urlaub erlernten Maßnahmen in den Alltag zu integrieren. Anreiz dazu bietet der von Linda Meixner erdachte Offtober, also eine geplante Auszeit im Oktober. Noch besser, man schafft das ganze Jahr über analoge Inseln, ein paar Stunden täglich oder an einem Tag in der Woche. Im Eriro endet der Tag, wie er begonnen hat: analog. Und zwar in der Holzstammbadewanne liegend, Musik vom Plattenspieler statt von Spotify. Für den weiteren Zeitvertreib bieten sich Brettspiele an. Oder der Blick auf die schneebedeckten Berge.