Sophie von der Tann: „Ich kann nicht in ständiger Angst herumlaufen“

Seit 2021 lebt und arbeitet Sophie von der Tann in Tel Aviv und berichtet von dort für die ARD über Israel und die Palästinensischen Gebiete. Im Interview mit Merian spricht sie über gepackte Notfalltaschen, Pressefreiheit im Krieg und über das Leben zwischen Strand und Raketenbeschuss.
Text Antonia Aust
Datum23.06.2025

Tel Aviv ist Israels Mittelmeer­-Metropole, eine der Partystädte schlechthin – und seit dem 7. Oktober 2024 ein Sehnsuchtsort ohne Touristen. Sophie von der Tann lebt dort als Korrespondentin der ARD. Nach den Anschlägen der Hamas hat sie ihre Stadt in Schockstarre erlebt. In Merian erzählt sie von trotziger Feierlaune, ihrem Alltag in Alarmbereitschaft und raren sonnigen Momenten

Merian: Seit wann sind Sie in Tel Aviv? 

Sophie von der Tann: Seit August 2021. Mein erster Eindruck war: Wow, hier ist ganz schön viel los! Es waren die Ausläufer von Corona, in Deutschland galten noch viele Abstandsgebote, hier war schon wieder das pulsierende Leben.

Wie haben Sie diese erste Zeit in der Stadt erlebt?

Als ich ankam, war Hochsommer, und ich wollte mich im Meer abkühlen, aber das Meer war fast genauso warm wie die Luft, da war nicht viel mit abkühlen. Und dann – typisch deutsch – habe ich mir erst mal ein Fahrrad gekauft und bin in der Hitze damit herumgefahren, damit habe ich aber schnell wieder aufgehört.

Wie war das Leben in Tel Aviv?

Ich war erst mal etwas überwältigt von dieser quirligen, lauten Stadt. Aber ich habe auch genossen, wie sehr sich das Leben draußen abspielt. Die Cafés, Bars und Restaurants sind voll, die Strände sind voll, es ist laut. Die Stadt pulsiert. Weil ich den Alltag der Menschen an unterschiedlichen Orten hier besser verstehen wollte, bin ich für einige Monate auch nach Jerusalem und ins Westjordanland nach Ramallah gezogen. Die Kon­traste in jeglicher Hinsicht waren und sind hier schon enorm. Während der Konflikt und die israelische Besatzung im Westjordanland auch im Alltag das Leben bestimmen, etwa wegen der Checkpoints, kann man in Tel Aviv vieles davon komplett ausblenden.

Wie haben Sie den 7. Oktober in Tel Aviv erlebt?

Ich erinnere mich sehr gut, früh­ morgens haben mich die Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Dann kamen nach und nach die ersten Nachrichten rein, vor allem über Social Media. Anfangs habe ich gar nicht verstan­den, was da abläuft, weil es so unvor­stellbar war. An den folgenden Tagen haben wir von früh bis spät berichtet, das ging morgens vor meiner Haustür mit den Liveschalten für das Morgen­magazin los. Und kurz nach dem 7. Oktober war ich selbst in einem der angegriffenen Kibbuzim, der Geruch von Leichen lag noch in der Luft, das werde ich nie vergessen.

Wie sieht es aus vor Ihrer Haustür?

Ich wohne an so einer Art Boulevard, einer breiten Straße mit Radweg, Bäumen und vielen Kiosks. Gerade morgens ist es dort eigentlich voll mit Leuten auf dem Weg zur Arbeit oder Familien auf dem Weg zur Schule. Vor den Kiosks sind lange Schlangen.

Wie sah es dort in den Tagen nach dem 7. Oktober aus?

Wie ausgestorben, kein Mensch auf der Straße. Es herrschte Schockstarre. Ein Kiosk, der sonst fast rund um die Uhr offen hat, war vier Tage am Stück geschlossen. Die Schockstarre hielt über Wochen an, Restaurants und Cafés blieben zu, die Stimmung war sehr gedämpft, das Land tief traumatisiert. Grabesstimmung. Das absolute Worst­-Case­-Szenario war eingetreten.

„Ab der Sirene hat man 90 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen, das ist relativ lang“

Seit 2021 berichtet Sophie von der Tann über Israel und die Palästinensischen Gebiete

Wie läuft ein Raketenangriff in Tel Aviv ab?

Die Sirenen heulen, man geht dann in seinen Bunker. Hier in der Stadt haben viele entweder einen Bunker im Haus oder in der Wohnung, so wie ich, oder man geht ins Treppen­haus. Und dann gibt es noch öffentliche Bunker – aber eigentlich öffnet jeder seine Türen. Wenn du gerade auf der Straße unterwegs bist, rennst du einfach irgendwo rein. Dann hört man den dumpfen Knall, die Detonation des Raketenabwehrsystems. Und danach bleibt man noch zehn Minuten im Bunker, weil noch Trümmerteile herunterfallen können. Man sitzt also in der Regel nicht stundenlang im Bunker. Es mag schwer vorstellbar sein, aber so etwas wird schnell zum Alltag. Und in Tel Aviv hat man ab der Sirene 90 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen, das ist relativ lang.

Das hört sich nicht so lang an.

Aber es ist lang, wenn man es mit anderen Orten vergleicht. Wenn man ganz nah am Gazastreifen ist oder im Norden, wo die Hisbollah angegriffen hat, hat man quasi gar keine Zeit. Das macht es so verdammt gefährlich. Und die Menschen im Gazastreifen haben kein Raketenabwehrsystem, die haben keine Bunker, die haben gar nichts. Da gibt es keine sicheren Orte.

Gibt es Orte in der Stadt, die Sie aufsuchen, wenn Sie mal abschalten möchten? 

Ich bin sehr gerne am Strand. In der Woche nach dem 7. Oktober, nach 24/7 Dauerberichterstattung, hat ein Kollege mich zum Glück quasi gezwungen, einen Tag freizunehmen. Ich bin am Strand laufen gegangen und habe mich in die Sonne gelegt. Ich habe damit zwar sehr gehadert, aber ich habe gemerkt, dass ich das brauche, um Kraft zu tanken zum Berichten. Ich kann mir nicht die ganze Zeit darüber Gedanken machen, was alles Schlimmes passiert. Ich brauche diese Momente, um abzuschalten und Kraft zu schöpfen, um danach weiter arbeiten zu können. Insofern ist es ein wahnsinniges Privileg, in einer Stadt zu leben, die direkt am Strand liegt, wo ich mal schnell ins Wasser springen kann und die Sonne fast jeden Tag scheint. Auch wenn ich weiß, dass das für die Menschen am Strand in Gaza nicht so möglich ist wie hier.

„Man kann hier einen relativ normalen Alltag führen“

Der 7. Oktober ist nun schon fast eineinhalb Jahre her. Wie ist das Leben in Tel Aviv heute?

Man kann hier einen relativ normalen Alltag führen, und das schon seit einer Weile. Die Cafés sind offen, die Restaurants voll, das Nachtleben ist wieder aktiv. Menschen gehen wieder auf Partys. Aber so ist es nur auf den ersten Blick. An vielen Orten sieht man Plakate der Geiseln. Und die Präsenz von Waffen ist groß. Man konnte in den letzten Monaten viele Reservisten in der Stadt sehen, die mit Maschinenpistolen im Café oder im Restaurant sitzen. Das ist Normalität hier. Für mich ist es manchmal schwer auszuhalten, dass ich hier ein fast normales Leben führe, wenn ich will, ausgehen kann, an den Strand kann und 70 Kilometer weiter südlich Menschen in einer Trümmerwüste ums Überleben kämpfen.

Sie sind auch viel im Land unterwegs. Wie ist die Atmosphäre in anderen Regionen, zum Beispiel in Jerusalem? 

Komplett anders. Die Bilder der Geiseln sind zum Beispiel viel weniger präsent im Jerusalemer Stadtbild. Hier in Tel Aviv hängen überall die Plakate von den Geiseln, es wurden ihnen Plätze gewidmet, zum Beispiel der sogenannte Geiselplatz beim Tel Aviv Museum. Überhaupt ist es eine ganz andere Lebensrealität in Jerusalem, auch weil die Stadt sehr religiös ist. Man sieht viele orthodoxe Jüdinnen und Juden. Und in der Altstadt kann die Atmosphäre auch manchmal angespannt sein, man sieht oft, wie die Grenzpolizei Palästinenser kontrolliert. In der Jerusalemer Altstadt leiden natürlich auch viele Ladenbesitzer darunter, dass im Moment fast gar keine Touristen und Pilger da sind.

Und an anderen Orten?

Mit Blick auf Tourismus trifft es besonders auch Städte wie Bethlehem im Westjordanland sehr hart. Die Stadt lebt von Besuchern. Als ich zu Weihnachten da war, eigentlich Hochsaison, war es das zweite Jahr in Folge ohne Touristen, auch aus der Region kam niemand. Denn die Feierlichkeiten waren aus Solidarität mit den Menschen in Gaza abgesagt. Ich habe mit Ladenbesitzern gesprochen, Krippenschnitzern, die überlegen, ihre Läden zu schließen, weil sie nicht mal mehr die Fixkosten tragen können. Der Krieg hat eben auch wirtschaftlich massive Konsequenzen.

Sind überhaupt Touristen unterwegs?

Nicht wirklich. Viele Hotels in Tel Aviv waren in der Zwischenzeit voll mit Evakuierten, entweder aus der Umgebung von Gaza, den angegriffenen Kibbuzim oder aus dem Norden, wo die Hisbollah attackiert hat. Und viele freiwillige Helfer waren da, es gab so eine Art Freiwilligen-Tourismus.

„Für den Fall, dass es eskalieren sollte habe ich eine Grab-and-Go-Bag gepackt“

Sophie von der Tann lebt in Tel Aviv und berichtet für die ARD über die Region

Können Sie sich frei im Land bewegen?

Das hat sich sehr geändert. Vor ein paar Monaten hatte ich ein paar Tage frei, aber die Frage „Wo fahre ich innerhalb vom Land hin?” war gar nicht so einfach. Eine Stunde nördlich von Tel Aviv war zu der Zeit viel Raketenbeschuss von der Hisbollah, im Süden gab es Hamas-Angriffe und am Roten Meer gab es Angriffe durch die Houthi-Rebellen. Für den Job mache ich das natürlich, fahre dahin, auch wenn Raketenalarm ist, aber wenn ich mal abschalten will? Israel ist ein kleines Land, in dem man sich auch sonst schnell etwas eingeengt fühlen kann, vor allem wenn man aus Europa kommt und an offene Grenzen gewöhnt ist. Zeitweise hat sich der Bewegungsradius schon enorm verengt. Am Ende bin ich zu Freunden in die Nähe von Jerusalem gefahren, da war es ruhig.

Wie bereiten Sie sich persönlich auf Einsätze vor?

Wenn wir irgendwohin fahren, wo es gefährlich sein kann, nehmen wir Sicherheitsausrüstung mit, schusssichere Westen, Helme und Erste-Hilfe-Sets, die wir bei uns tragen, wenn wir unterwegs sind. Und für den Fall, dass es wirklich eskalieren sollte und wir schnell aus dem Land müssen, haben wir uns zu Beginn des Kriegs Grab-and-Go-Bags gepackt. In so einer Notfalltasche sind dann Klamotten drin, Bargeld, Medikamente, Powerbank und solche Dinge.

Sie waren vor dem Krieg auch in Gaza City. Wie war das Leben in dieser Stadt? 

Natürlich ist es zum Teil sehr arm gewesen, auch schon vor dem Krieg. Viele Menschen hatten nicht genügend zu essen, keine richtige Wasser- und Stromversorgung, haben auf engstem Raum auf diesem schmalen, abgeriegelten Küstenstreifen gelebt. Aber gleichzeitig gab es da auch ein Stadtleben und Restaurants. Ich war in einem sehr schönen Laden, wo es riesige Tabletts mit Kanafeh gab, ein typischer Nachtisch, und sich lauter Süßigkeiten türmten und alles glitzerte und funkelte. Es gab Strandbars, natürlich ohne Alkohol, aber man saß da und hat Shisha geraucht. Und es gab so kleine verzierte Büdchen und Hollywoodschaukeln. Familien hatten große Wassermelonen dabei und die Kinder haben am Strand herumgetollt. Es gab wunderschöne Szenen mit viel Lebensfreude trotz allem.

Wann waren Sie zuletzt in Gaza?

Ich war zuletzt im Februar 2024 im Gazastreifen, „embedded“ mit dem israelischen Militär, also auf einer Art Pressetour. Da konnte ich die massive Zerstörung schon sehen, aber unabhängig von der Armee konnte ich mich nicht bewegen. „Embeds“ sind für uns Journalisten seit dem 7. Oktober der einzige Weg, nach Gaza reinzukommen. Denn Israel lässt uns nicht selbstständig nach Gaza, und auch von Ägypten kommen wir nicht rein. Das ist eine massive Einschränkung der Pressefreiheit.

Sophie von der Tann lebt in Tel Aviv und ist Korrespondentin für die ARD. Sie berichtet regelmäßig aus Israel und den Palästinensischen Gebieten. Sie produziert Reportagen und ist als Mitglied des ARD-Studios Tel Aviv häufig in Liveschalten in Formaten wie der Tagesschau, den Tagesthemen und Weltspiegel, sowie Talkshows zu sehen, in denen sie die aktuelle Lage und Hintergründe aus der Region einordnet. Wir haben im Februar 2025 mit ihr gesprochen.

Was hören Sie vor Ort, wie ist es jetzt?

Komplette Zerstörung. Ganze Gegenden sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Leute stehen vor den Ruinen ihres Lebens. Schlagen ein Zelt auf, weil ihr eigenes Haus ausgekohlt, verbrannt, zerstört wurde. Man weiß nicht, wo kracht es als nächstes ein, sind da noch nicht detonierte Bomben, liegen da Tote unter den Trümmern. Diejenigen, die in Gaza waren, auch von Hilfsorganisationen, beschreiben es als apokalyptisch.

Welche Rolle spielt Angst in Ihrem Alltag?

Zum Glück eigentlich keine große. Ich fühle mich relativ sicher. Was vielen fast mehr Angst macht als Raketen, sind Terrorangriffe. Da gibt es keine Warnung durch den Alarm. Ich war letztens in einem Café, und ein paar Straßen weiter gab es einen Angriff. Eine Messerattacke. Und dann seh ich es auf dem Handy und denke mir: Oh, das war um die Ecke. Und dann mache ich irgendwie weiter. Aber ich kann ja auch nicht in ständiger Angst überall rumlaufen. Manche israelische Freunde von mir haben schon so einen unterbewussten Mechanismus, wenn sie irgendwohin gehen. Die checken immer erst mal den Raum ab – wo kann man in Deckung gehen, wo kommt man schnell raus. Das ist natürlich krass, wenn das ein Teil davon ist, in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein.

Was wünschen Sie sich für die Region?

Dass die Menschen irgendwie die Kraft haben, aufeinander zuzugehen und das Leid des anderen wahrzunehmen und anzuerkennen. Das findet leider fast gar nicht statt.

Gibt es einen Ort, der Ihnen besonders am Herzen liegt?

Es gibt so schöne Orte, die Wüste ist toll und die Hügel rund um Jerusalem sind gerade im Frühjahr schön zum Wandern. Und ich bin gern im Westjordanland, Bethlehem ist einer meiner Lieblingsorte, das hat eine tolle Atmosphäre. Nablus ist auch eine sehr schöne Stadt mit einem tollen alten Markt, verwinkelten Gassen und Gewürzläden, aber als Tourist ohne Kontakte vor Ort würde ich da gerade nicht hinfahren, weil radikale Gruppen Zulauf haben und das israelische Militär immer wieder Einsätze durchführt. Hier in Tel Aviv mag ich besonders den sogenannten Hilton Hill. Da gehe ich auch manchmal mit meinen Kollegen hin: ein paar Felsen und ein kleiner Park, ein bisschen höher gelegen, neben dem Hilton Hotel. Da kann man sehr gut den Sonnenuntergang sehen und ein Bier dazu trinken.