Im Herzen Australiens: Roadtrip durchs Northern Territory

Die Skyline von Melbourne ist längst verschwunden, da verwandelt sich das Grün der Landschaft erst in Ocker, dann in Rot, und von den Straßen und Feldern, die eben noch den Südosten des Kontinents in kantige Flächen teilten, ist nichts mehr zu sehen. Jetzt ist alles eine Ebene.
Selten unterbricht eine Schotterpiste, ein trockenes Flusstal, ein Salzsee diese Einheit des am spärlichsten besiedelten Gebiets Australiens, den Bundesstaat Northern Territory. Er ist dreimal so groß wie Deutschland, reicht vom tropischen Darwin, seiner Hauptstadt an der Küste, hinab in die Halbwüste: das Red Centre.
Der heilige Berg: Reise zum Uluru

Dort steht eine Weltberühmtheit: der Tafelberg Uluru, seit 1987 UNESCO-Welterbe. Winzig hatte er von oben aus dem Flugzeug gewirkt. Ganz anders dann das Gefühl, direkt vor ihm zu stehen. Mit seinen senkrecht verlaufenden Furchen, den abgerundeten Kuppen sieht er aus wie eine glatt geschmirgelte Skulptur, wie ein abgelegter riesiger Stein, mehr als 340 Meter hoch. Für die einen strahlt Uluru Ruhe aus – eine Frau sitzt ihm zugewandt im Schatten eines Baumes, die Augen geschlossen, die Beine gekreuzt –, andere scheinen seine Ausmaße erfahren zu wollen, etwa drei mal zwei Kilometer, und sausen mit Segways über die Wanderwege. Andere sind zu Fuß unterwegs. Sie machen Halt an Ulurus Wasserstellen und Höhlen, in denen schon vor Zigtausenden Jahren die Anangu Zeremonien abhielten.
Verna Wilson, breites Lächeln, die lockigen Haare zum Zopf gebunden, gehört zu den Anangu, den hiesigen Aboriginal People. Zusammen mit Peter, einem Guide, der für sie ins Englische übersetzt, führt sie Besucher an diesen magischen Ort.
Wer in der Wüste überleben will, muss einfallsreich sein
„Vergangene Woche hat es geregnet wie lange nicht“, erzählt Verna am Mutitjulu-Wasserloch. „Richtige Wasserfälle stürzten hier runter.“ Peter zeigt ein Video davon herum. Noch jetzt steht das Wasser ungewöhnlich hoch und spiegelt die roten Sandsteinfelsen ringsum. Vier verschiedene Froscharten leben hier, erzählt Peter. Die Amphibien könnten jahrelang in ihren Erdlöchern ausharren. „Aber bei Regen kommen sie hervor und stimmen eine Liebes-Kakofonie an, die wie das Blöken einer Schafherde klingt und laut von den Felswänden widerhallt.“
Wasserfälle sind jetzt kaum vorstellbar, es sind 35 Grad, eine trockene Hitze. Wer hier überleben will, muss sich was einfallen lassen. Wüstenkasuarinen etwa verlassen sich gar nicht erst auf Regen, die ersten Dekaden ihres Lebens verbringen die Bäume damit, bis zu 40 Meter tiefe Pfahlwurzeln zu bilden, um dann tausend Jahre alt zu werden.
Auf den Spuren einer 30.000 Jahre alten Kultur

„Seit 30.000 Jahren ist den Anangu der Berg heilig“, sagt Verna. 30.000 Jahre. Vor gerade mal 152 Jahren stießen Europäer auf den Uluru, nannten ihn fortan Ayers Rock, nach dem damaligen Premierminister Henry Ayers. Mehr als 100 Jahre dauerte es, bis die Regierung den Anangu das Land um den Berg formell zurückgab, der eng mit ihrer Schöpfungsgeschichte verbunden ist. Und noch einmal fast 40 Jahre, bis ernsthaft durchgesetzt wurde, dass niemand mehr auf den Uluru klettert wie in den 80er-Jahren Prinz Charles und Lady Diana.
Noch immer aber können Besucherinnen und Besucher am Fuß des Bergs wandern und Touren per Kamel, Rad oder eben mit dem Segway machen. Oder ihn von Weitem betrachten, auf einer Aussichtsplattform zu Sonnenauf- und -untergang – inklusive einer Lasershow, die mit den Anangu entwickelt wurde und ihre Geschichte erzählt. Dann schwirren Hunderte Lichtdrohnen in die Höhe und zeichnen Bilder in den dunklen Himmel und man muss aufpassen, den beachtlichen Berg nicht zu übersehen. Wenn die letzte bunte Lichterdrohne gelandet ist, sind nur noch zirpende Zikaden zu hören und der Uluru ruht wie schon vor 400 Millionen Jahren am Horizont.
Die eindrucksvollen Felsenwelten vom Kings Canyon

300 Kilometer nordöstlich des Uluru liegt noch so eine Landschaftsikone: der Kings Canyon im Watarrka-Nationalpark, eine grüne Schneise in den Bergen der George Gill Range. Trotzdem kann es auch hier heiß werden, Parkbehörden raten von einer Wanderung nach elf Uhr vormittags ab. Tourguide Jemima, kurz Jim, hat den Aufbruch zur Schlucht deshalb für sechs Uhr angesetzt. Noch ist die Milchstraße am Himmel zu sehen.
Vögel beginnen ihr Morgenkonzert, und der Wanderweg legt mit 500 Stufen los. Schnell wird klar, warum die Australier diese Anhöhe „Heart Attack Hill“ nennen. Über Geröll, Holztreppen und durch Felsspalten geht es bis zu einem Plateau, von dem aus die Wände des Canyons wie eine gigantische Leinwand aussehen und die waagerechten Gesteinsschichten besonders gut zu erkennen sind. Nach einem kurzen Abstieg gelangt man zum Garten Eden, eine Oase, in der sich das Wasser des Kings Creek sammelt. Mit ihren farnbewachsenen Felsen wirkt sie so märchenhaft, dass man sich über sprechende Bäume eigentlich nicht wundern müsste.
Es ist dann eher ein Flüstern: ein Ohr an den Stamm gelegt und es rauscht und gluckert – vom Wasser, das durch Leitungsbahnen der Eukalyptusbäume von den Wurzeln bis hinauf in die Blätter steigt, wo es verdunstet. Ein paar Stufen aufwärts hält der Canyon noch mehr Naturwunder bereit: einen 600 Jahre alten Palmfarn etwa. „Und diese geriffelte Einbuchtung dort ist das Fossil einer Seepocke“, sagt Jim. Dann zeigt sie auf ein wellenförmiges Muster am Boden, das aussieht wie eine terrakottafarbene Designerfliese: versteinerter Meeresboden.
Vor vielen Hundert Millionen Jahren bedeckte ein flaches Meer diesen Teil Australiens. Wie ein Freilichtmuseum zeigt der Wanderweg am Canyon eine Ahnung dieser Vergangenheit. 30.000 Einwohner hat die größte Stadt im Red Centre, Jim sammelt ihre Gruppe ein, um dorthin, nach Alice Springs, zu fahren. Sie wählt die Abkürzung über die Ernest Giles Road. „Wir könnten auch den Highway nehmen“, sagt sie und grinst. „Aber das würde doppelt so lang dauern und wäre nur der halbe Spaß.“ Wenn schon Outback, dann richtig.
Die Wallabys vom Simpsons Gap

Es rumst und ruckelt auf der Schlaglochpiste. Ohne Allradantrieb wäre man hier verloren, was zurückgelassene Autoreifen am Wegrand wie Mahnmale bezeugen. Wo die Strecke trockene Flussbetten quert, zeigen Latten am Wegrand, wie hoch das Wasser hier bei Regen steigen kann – fast zwei Meter. Jetzt zieht der Bus eine Staubfahne hinter sich her, doch der Regen von vergangener Woche hat auch hier Spuren hinterlassen: Die Natur nutzte die seltene Gelegenheit, um im Rekordtempo einige sattgrüne Weiden in das rote Herz Australiens zu tupfen. Auf ihnen grasen wilde Pferde, Rinder und Dromedare. Immer wieder drosselt Jim das Tempo für Fotos. Manche Tiere kreuzen gemächlich die Fahrbahn, andere galoppieren verschreckt davon.
Wenn hier Kängurus zu sehen sind, dann Wallabys, vor allem am Simpsons Gap, Rungutjirpa in der Sprache der Aboriginal People. Die eindrucksvolle Felsspalte nahe Alice Springs ist durch den Fluss entstanden, der über Millionen Jahre einen Durchbruch in die Gebirgskette MacDonnell Ranges geschnitten hat. Meist sieht man hier nur ein sandiges Flussbett und eine Wasserstelle am Fuß der Felsspalte. Der Fluss verläuft unterirdisch, taucht aber bei starkem Regen auf und kann dann weite Teile unter Wasser setzen.
Die Engländerin Anna Dakin kommt mit ihren Tourgästen oft hierher. Der Fluss ist nicht nur ein guter Ort für ein Picknick, sondern auch, um zu verstehen, wie die Besiedelung durch die Europäer ab Ende des 19. Jahrhunderts das Land verändert hat. Simpsons Gap ist eine heilige Stätte der hiesigen Aboriginal People Arrernte – und eben auch Revier seltener Schwarzpfoten-Felskängurus, einer Wallaby-Art, deren Bestand als gefährdet gilt. „Die Farmer haben das Wasser als Tränke für ihre Rinder benutzt“, erklärt Anna Dakin. „Für die Arrernte war das eine Entweihung. Und die Wallabys wären beinahe verschwunden, weil ihr Trinkwasser verschmutzt wurde, erst durch Rinderkot und später durch Sonnencreme.“ Heute versuchen viele europäischstämmige Australier, die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen.
Australiens Aboriginal Superfood

Das Schwimmen ist nicht mehr erlaubt, inzwischen leben wieder um die 30 Wallabys am Simpsons Gap. Am ehesten sind sie frühmorgens oder bei Einbruch der Dunkelheit zu sehen. Eines hat sich in einer schattigen Spalte des Gerölls versteckt, nur sein Hinterteil lugt hervor. Manch Einwohner mag die Beschränkung aber nicht hinnehmen. Als Anna Dakin einen jungen Mann in Badehose auf dem Weg zum Wasserloch anspricht, beginnt der, laut zu diskutieren. Er sei hier schließlich aufgewachsen und schon als Kind in diesem Fluss geschwommen. Weil das Gespräch zu nichts führt, kehrt sie zur Picknickstelle zurück. Sie hat die Köchin Rayleen Brown eingeladen, die gerade Besteck, Schraubgläser und Kunststoffdosen auspackt. Brown trägt ein buntes T-Shirt, auf dem „House of Darwin“ steht, eine Outdoormarke von der Küste. Rayleen Brown ist dort geboren. „Aber meine Eltern zogen oft mit uns um. Schließlich kamen wir nach Alice Springs, von hier stammt meine Mutter ursprünglich. Ich gehöre zur Familie der Arrernte“, erzählt sie.
Es sei ihr nicht leichtgefallen, in der Schule mitzuhalten, damals in den 1970ern. Für die meisten der Aboriginal People ist Englisch eine Fremdsprache, aber Voraussetzung für gute Jobs oder um zu studieren. Damals gab es kaum Unterstützung für Kinder aus Familien wie ihrer, stattdessen Stockschläge auf die Hand, wenn sie in ihrer Muttersprache redeten. Aber fürs Leben gelernt, sagt Rayleen Brown, habe sie vor allem von ihrer Großmutter. Die brachte ihr bei, welche Kräuter heilen, welche Früchte nahrhaft sind und wo sie wachsen. Heute hat Brown, die nach der Schule zunächst im Supermarkt arbeitete, fünf Kinder, zehn Enkel und hält ihr Unternehmen Kungkas Can Cook am Laufen.
Sie tritt im nationalen Fernsehen auf, hält Vorträge im ganzen Land und verkauft traditionelle Lebensmittel der Aboriginal People, die jetzt von anderen als Superfood entdeckt werden: Die Samen der Akazien sind glutenfrei und enthalten jede Menge Protein, Eisen und Ballaststoffe. In der Buschtomate steckt mehr Vitamin C als in Orangen. Brown hat ein süßes Chutney daraus gekocht und eine Marmelade aus Quandongs, dunkelroten Früchten. „Wenn sie reif sind, leuchten sie wie Kugeln am Weihnachtsbaum“, sagt sie.
Die Früchte und Blätter schmecken aber auch den wilden Dromedaren, sie fressen ganze Bäume kahl. Mehr als eine Million der Tiere ziehen inzwischen durch Down Under. Die Briten brachten sie einst zusammen mit Arbeitskräften aus Pakistan, Indien und Afghanistan her, um die Eisenbahnstrecke zu bauen, die heute von Adelaide an der Südküste quer durch das Outback bis nach Darwin führt. Noch heute heißt der Zug Ghan-Express, nach den Afghanen und ihren Wüstentieren.
Mit dem Ghan-Express ans Ende der Welt

Mit dem Ghan-Express kam auch Anna Dakin ins rote Zentrum. 2012 war das, gleich nach der Schule in ihrer Heimat England. „Der Ghan hatte damals noch günstige Liegesitze, die von irgendeiner Airline stammten. Nur deshalb konnte ich mir die Reise leisten“, erzählt sie. Bei einem mehrtägigen Stopp in Alice Springs habe sie ihr Herz an das Outback verloren. „Ich habe dann zwar erst mal Kunst in England studiert, aber die ganze Zeit nur noch von Australien gesprochen.“ Nach der Uni fing sie mit einem Work-and-Travel-Visum auf einer Rinderfarm in New South Wales an, „aber es hat mich immer wieder ins Rote Zentrum gezogen.
Viele Leute sagen: Da gibt es doch nur Wüste und Steine. Mir gefallen gerade diese Weite und Freiheit hier.“ Inzwischen hat sie ihr eigenes Tourunternehmen, gibt Malkurse und hat gerade ein Grundstück für einen Campingplatz gekauft. Er liegt neben einer Schutzstation, in der verletzte Kängurus aufgepäppelt werden und wo noch vor Kurzem der Film „Lilly und die Kängurus“ gedreht wurde.
Darin geht es um einen Fernsehmoderator, der durch einen Unfall auf einer roten Schotterpiste im Outback landet und am Ende dort heimisch wird, und das ist sehr authentisch. Er basiert auf der Geschichte von Anna Dakins künftigem Nachbarn, dem Känguru-Pfleger Chris Barns, der aus dem westaustralischen Perth stammt. 2005 rettete er auf der Durchreise bei Alice Springs ein angefahrenes Kängurujunges – und blieb. Es scheint die Menschen nicht mehr loszulassen, dieses wilde Fleckchen Erde am Ende der Welt.