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Kultur

Memphis Design: „Diese Idee war für manche ein Schock“

Die Autorin Barbara Radice, 79, ist die Witwe des italienischen Designers Ettore Sottsass – mit ihm und anderen hat sie 1980 die Memphis Group gegründet, die das Design der Achtzigerjahre maßgeblich geprägt hat. Im Interview mit MERIAN spricht sie über ihre Beziehung zu Sottsass, die Wirkung des Memphis Designs und die Frage, wie offen man jenseits der 60 noch sein kann.

Text Burkhard Maria Zimmermann
Datum 10.05.2022

MERIAN: Frau Radice, Sie waren verheiratet mit einem der vielleicht wichtigsten italienischen Designer: Wann haben Sie Ettore Sottsass getroffen?

Barbara Radice: Er wurde mir 1976 im Studio von Vittorio Gregotti vorgestellt, einem bekannten italienischen Architekten. Ich sah Ettore später in Venedig wieder, wo ich bei der Biennale arbeitete – wir trafen uns auf einem Vaporetto, einem dieser Motorboote, die dort über die Kanäle tuckern. Ich kam vom Einkaufen und war auf dem Weg nach Hause. Ettore lud mich zum Abendessen ein. Ich sagte, ich weiß nicht, ob ich kommen werde. Er sagte, ich werde auf dich warten. Ich ging dann doch hin und so lernten wir uns kennen.

Was für einen Eindruck hat er auf Sie gemacht?

Ettore sah gut aus, er wusste, wie man sich anzieht, und er war sehr charmant. Alle mochten ihn, nicht nur ich. Ich habe ihn anfangs nicht als möglichen Partner gesehen, ich war ja 33 und er 59, ich fand ihn eigentlich zu alt für mich. War er dann aber doch nicht.

Er hat die Memphis Group mit 63 gegründet – in einem Alter, in dem manche schon an die Rente denken …

Ettore war ein sehr neugieriger und aufgeschlossenenr Mensch, er hatte eine beeindruckende Energie. Sein Leben war nicht immer leicht, er hatte im Zweiten Weltkrieg gedient und danach immer viel gearbeitet. Die Designer der Memphis Group waren viel jünger als er – er mochte junge Menschen, weil sie so offen waren. Ältere Menschen haben oft ihre Vorstellungen davon, wie die Dinge zu laufen haben, und sie sind nicht sehr empfänglich für neue Ideen.

 

© Mepmhis Milano
Lampe „Super“, Designer: Martine Bedin, 1981, Fiberglas
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Vase „Victoria“, Designer: Marco Zanini, 1982, Keramik
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Sessel „Bel Air“, Designer: Peter Shire, 1982, Holz und Wolle

Barbara Radice: „Die Stimmung war sehr enthusiastisch“

Sie waren ein Gründungsmitglied der Memphis Group: Was für eine Stimmung war das damals?

Wir waren eine Gruppe aus Designern und Architekten, ich war die einzige Autorin in der Gruppe. Ich war Ettores Freundin, wir alle waren miteinander befreundet – die anderen waren froh, dass ich dabei war, damit jemand mitschreiben konnte! Später habe ich das Buch „Memphis – Research, Experience, Results, Failures and Successes of New Design“ veröffentlicht. An einem Abend im Jahr 1980 haben wir alle zusammen bei Ettore und mir zu Abend gegessen und dabei das Lied „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again“ von Bob Dylan gehört. Das hat uns angesprochen, denn wir selbst fühlten uns „stuck“, hängen geblieben, was das Design anging: Es kam uns zu der Zeit furchtbar langweilig vor. Wir waren aber nicht gegen etwas, wir waren für etwas, für eine neue Designsprache. Die Stimmung war sehr enthusiastisch.

Warum fanden Sie, dass das Design sich ändern musste?

Es war veraltet und es erneuerte sich nicht. Der Ausdruck in der Kunst ändert sich ständig – in der Musik, in der Mode, im Kino und im Design eben auch. Seit den Sechzigern hatten Designer eigentlich aufgehört, zu gestalten – sie diskutierten ihre Rolle in der Gesellschaft und sie fragten sich, ob sie für die Industrie arbeiteten oder für die Menschen. So ging das seit Jahren. Ettore sagte einmal: „Wir haben die Revolution nicht gemacht, sie war schon da.“ Wir waren nur diejenigen, die das Ganze ins Rollen brachten.

„Die Leute konnten es nicht glauben“

© Giovanni Gastel

Können Sie ein paar Dinge nennen, die veranschaulichen, was zu der Zeit falsch lief?

Nein, denn es war nichts falsch. Es gab gute Teppiche und schöne Möbel und Bücherregale aus Holz – aber wenig Farbe und die Materialien waren immer dieselben. Bodenbelag aus Plastik hatte man damals nur in Küchen und Badezimmern – wir brachten ihn ins Wohnzimmer, bedruckt mit bunten Mustern. Diese Idee war für alle neu, für manche war sie ein Schock.

Und Sie lagen offenbar richtig: Das Memphis Design war ab dem ersten Tag ein voller Erfolg.

Als die Leute das Bücherregal Casablanca sahen, konnten sie es nicht glauben, sie standen mit offenen Mündern davor. Wir waren sehr überrascht von unserem Erfolg und von dem Tempo, mit dem das Memphis Design sich auf der Welt verbreitete. Wissen Sie, Künstler sind Übersetzer, sie übersetzen eine gesellschaftliche Stimmung in neue Werke, und das haben wir gemacht. Es gab offenbar eine große Sehnsucht nach einer neuen Designsprache, nicht nur in Italien, sondern auch in vielen anderen Ländern. Für viele Menschen fühlte es sich an, als könnten sie endlich aufatmen.