Zwischen Sealine und Skyline: Ein Liebesbrief an Sydney

Weiße Segel auf einem gigantischen Betonsockel, der auf einer Landzunge über der Hafenbucht thront: das Opera House! Dieser Anblick steht für Sydney, dieses Bild haben die meisten Menschen als Erstes im Kopf, wenn sie an die australische Metropole denken. Ich auch. Immer wieder. Wenn die letzte Silbe des Wortes Sydney jemandes Lippen verlässt, passiert bei mir aber noch mehr als Kopfkino: Mein Herz hüpft ein bisschen höher und schlägt schneller, als es auf Dauer gesund wäre. Beim Schreiben dieser Sätze bekomme ich Gänsehaut. Beides sind körperliche Reaktionen, die ich mir weder ausgesucht habe noch kontrollieren kann. Für mich war Sydney trotz Jetlags und 40 Grad Sommerhitze Liebe auf den ersten Blick. Eine Liebe, die niemals enden wird. Solche Sätze triefen vor Kitsch und sind alles andere als lässig und cool.
Aber es ist eben passiert, damals, Anfang der Nullerjahre. Wochen nach meiner ersten Australienreise, zurück im deutschen Winter, plagte mich eine noch nie da gewesene Sehnsucht. Fernweh kannte ich, aber dieses Gefühl war neu. Sydney war mehr als ein Crush oder ein kurzes Hochgefühl. Sydney saß tiefer und mir wurde schnell klar: Ich musste sie wiedersehen, diese Stadt down under. Natürlich wäre ein Ort in Franken oder Lothringen wesentlich einfacher für mein Leben und meine Reisekasse gewesen, aber gegen echte Gefühle ist es schwer, anzukämpfen. Bis heute vernachlässige ich wegen Sydney andere Orte. Sorry, Rio, sorry, Vancouver, ihr seid sicher auch spannend, aber ich bin vergeben.
Sydney: Eine Weltmetropole, die entspannt bleibt

Sydney liegt entlang einer gigantischen Bucht, die sich über den Parramatta River tief ins Landesinnere frisst. An den Ufern zerklüftete Felsen, Parks und Häuser, von deren Verandas man aufs Wasser gucken kann. Und da, wo keine Felsen sind, hat Sydney Strände. Fast jedes Viertel, jeder Vorort hat seinen eigenen. In der Summe sind das mehr als 100 – eine Anzahl, so absurd hoch, dass es fast schon eine Frechheit ist. In Europa ist ein einsamer Strand ein Sechser im Lotto, in Sydney ist es schwer, einen Strand zu finden, an dem sechs Leute gleichzeitig sind. Vielleicht ist das etwas übertrieben, gerade mit Blick auf Strandikonen wie Bondi Beach, aber Sie merken: Ich bin verliebt.
Kurz bevor die Bucht, um die sich Sydney rankt, ins offene Meer übergeht, gehen die Vororte in eine Weltmetropole über, die entspannt bleibt und nie vergisst, wo sie herkommt. Stadtteile wie Surry Hills oder Potts Point entzücken mit kleinen, britisch anmutenden Häusern, verzierten Balkonen und Alleen. Wer es neu, glänzend und modern braucht, geht nach Barangaroo. In Sydneys neuem Viertel an der Waterfront konnten sich Architekten der Neuzeit austoben. Hochhäuser aus Stahl und Glas treffen auf renovierte Lagerhallen mit viel Wow-Effekt. In Sydney wird immer und überall gebaut, die Stadt verändert sich ständig und das oft in einem Tempo, das wir auf der Nordhalbkugel selten erleben.
Sydney macht es einem so leicht

Und dabei macht Sydney es einem so leicht: Alles ist fußläufig erreichbar oder schnell per Bus, Straßenbahn oder Fähre. Selbst die praktischen Seiten der Stadt sind hinreißend. Fähren als öffentliche Verkehrsmittel – wie wunderbar! Buchen Sie bloß keine teure Hafenrundfahrt, sondern steigen Sie einfach am Circular Quay bei Wharf 2, Side B in Richtung Watsons Bay ein. Knappe 30 Minuten fahren Sie dann Linienverkehr auf dem Meer durch einen der schönsten natürlichen Häfen der Welt. Leichtes Schaukeln, Salz auf der Haut, das Meer duftet. Wenn Sie mich suchen, ich stehe an der Reling und winke den Leuten auf den Segelschiffen zu oder den Passagieren der Queen Mary 2, die Sydney natürlich auch auf ihrer Route hat.
Mit der Fähre geht es vorbei an wohlhabenden Vororten mit Villen, großen Trauerweiden und privaten Bootsanlegern. Die Namen so schön wie die Orte selbst: Darling Point und Rose Bay. Oder Watsons Bay, ehemals ein altes Fischerdorf, jetzt uriger Stadtteil mit Pier, Leuchtturm und Boutiquehotels. Die Sydneysiders kommen hierher, um mit Ausblick auf die Skyline ein Bier zu trinken, Fish and Chips zu essen oder zum Picknick.
„Es gibt diese großen Momente, in denen es mir warm ums Herz wird in Sydney“

Nicht ganz so entspannt wie in Watsons Bay geht es am Circular Quay zu, dem großen Hafen, wo die Fährreise eben begann. Zwischen den Booten tobt das Leben. Am Himmel kreischen Kakadus, die in Richtung Botanischer Garten unterwegs sind, darunter Künstler am Didgeridoo und Menschen in Cafés und Restaurants. Und nur fünf Minuten weiter befindet sich der perfekte Ort, um die Stadt zu begreifen: eine der Bars im Sockel des Opernhauses. Von da schweift der Blick über den Hafen auf die atemberaubenden Wolkenkratzer des Business-Districts.
Die Stadt ist ein Big Player auf der Südhalbkugel. Finanzen, Handel, Politik, Sydney ist da, wo vorne ist. Auch kulturell und gesellschaftlich. Offen, fröhlich, freundlich – kurz hintereinander fanden hier die Frauenfußball-WM und die Worldpride der LGBTQIA+-Community statt. Großer Sport, Demo und Party passen in Sydney wunderbar nebeneinander. Und in dieser Stadt feiert man die Feste auch gemeinsam mit den Aboriginal People. Lange wurden sie von den Regierungen Australiens unterdrückt, seit ein paar Jahren bessert sich der Umgang. Und so zeigte Sydney nicht nur Regenbogenflaggen zur Eröffnung der Worldpride, sondern ließ auch eine von Künstlerinnen erschaffene Regenbogenschlange die Demo eröffnen. Die Schlange in den Farben des Regenbogens steht bei den Aboriginal People für den kreativen Geist, der die Welt erschaffen hat.
Es gibt diese großen Momente, in denen es mir warm ums Herz wird in Sydney, aber auch die, die auf den ersten Blick gar nicht so auffallen. Zum Beispiel, wenn sich am Nachmittag gegen 17 Uhr plötzlich die Atmosphäre der Stadt verändert. Von der Bar unter dem Opernhaus aus sind plötzlich mehr und mehr Menschen zu sehen, die aus dem Business-District Richtung Wasser laufen, als gäbe es im Hafen etwas umsonst. Noch im Laufen werden die obersten Knöpfe von Hemden geöffnet, werden Krawatten salopp über die Schulter gelegt und hohe Schuhe gegen Flipflops getauscht. Sie wollen in ihre Stadtteile, nach Hause oder in eine der vielen Open-Air-Bars im Altstadtviertel The Rocks, um einen australischen Chardonnay oder eine hausgemachte Limonade zu trinken.
„Freizeit wird in Sydney großgeschrieben”


Um 17 Uhr schallt der Freizeitalarm durch Sydney. Nicht nur in den Büros hat man Feierabend, auch viele Geschäfte, Boutiquen und Einkaufszentren schließen: Freizeit wird in Sydney großgeschrieben. Jede Minute wird genutzt. Surfen, Rugby spielen, Freunde treffen und Essen. In Sachen Kulinarik ist Sydney für mich ein perfektes Match. Die Stadt hat zwei kulinarische Highlights zu bieten, die mich immer glücklich machen. Asiatisches Essen und Frühstück. Ich behaupte, in keiner Stadt der Welt wird das Essen morgens schöner zelebriert als in der Stadt mit S.
Die Beweisführung: Warum isst die Welt in allen Hipster-Cafés von Singapur über Berlin bis New York morgens oder zum Brunch Avocado auf Brot? Wegen Bill Granger. Er ist jener australische Koch, der 1993 im Sydneyer Vorort Darlinghurst eine ganze neue Frühstückskultur erfand. Er setzte Avocados auf die Karte. Ein Grundnahrungsmittel einer ganzen Generation. Granger nahm die reife Frucht, stückelte sie, gab Feta, Chili, Olivenöl und Limettensaft dazu und legte die appetitliche Masse auf ein Stück geröstetes Sauerteigbrot. Fertig ist der Avocado-Smash, fertig ist der nicht endende Hype.
Wo immer man auf der Welt ist, in einem Café mit Holztischen und Pflanzen im Fenster sitzt und wo Flat Whites, Eggs Benedict und Obstsalat auf Waffeln angeboten werden, hat das auch immer etwas mit Sydney zu tun. Vielleicht kommt von diesem gesunden Start in den Tag die gute Laune der Menschen in der Stadt. Besonders zu spüren samstags auf der Oxford Street, die von der City bis zur Bondi Junction führt.
„In Sydney plaudert man gerne, ist neugierig und wird als Reisender auch schon mal auf eine Party eingeladen”
Shoppen, über Märkte spazieren und gut gelaunte Menschen mit Sonnenbrillen auf der Nase treffen. Ein idealer Ort dafür ist Cleveland on Oxford Street. Eine Boutique und Secondhandladen, voll mit verrückten Klamotten, 90er-Nippes und Möbeln. Allerspätestens hier kommt man mit Leuten ins Gespräch. In Sydney plaudert man gerne, ist neugierig und wird als Reisender auch schon mal auf eine Party eingeladen. Bei mir war es eine Silvesterparty.
Googeln Sie mal Silvesterfeuerwerk in Sydney – von einem Balkon in Potts Point, auf einem der vielen Hügel der Stadt, habe ich es mit einem Glas Sekt in der Hand gesehen und hatte beim Runterzählen auf Mitternacht und den Jahreswechsel feuchte Augen. In der japanischen Sprache gibt es ein Wort, das die Sehnsucht nach einem Ort ausdrückt. Furusato. Das, was ich fühle, wenn ich an Sydney denke, ist Furusato.