Zu Besuch in Amiens: Die Ruhige an der Somme

Eine total unaufgeregte Stadt und mittendrin, wie ein gigantisches Schulterzucken, Frankreichs größte Kathedrale: Viele Frankreich-Reisende kommen zufällig nach Amiens – und sollten dringend auf die Bremse treten und bleiben.
Text Tinka Dippel
Datum22.05.2025

Sie war der Schauplatz, als Jules Verne im Jahr 1875 seine Zukunftsvision für „Eine ideale Stadt“ veröffentlichte: seine Wahlheimat Amiens und wie er sie sich im Jahr 2000 vorstellte. Der große Fantast der französischen Literatur verliebte sich während eines Besuchs ziemlich prompt – in die Stadt und eine ihrer Bewohnerinnen. Er verließ Paris, um fortan bis zu seinem Tod hier, ein Stück nördlich der Hauptstadt, zu leben, in „einer klugen, zivilisierten Stadt mit ausgeglichener Atmosphäre und einer herzlichen und gebildeten Gesellschaft. Wir sind nahe genug an Paris, um die Stimmung dort mitzubekommen, aber ohne den unerträglichen Lärm und die Hektik dort.“ Damit beschrieb er auch das Amiens von heute schon ziemlich gut. 

Wir nehmen Sie mit in die herrlich unaufgeregte Stadt an der Somme.

Frankreichs größte Kathedrale steht in Amiens

Die Dewailly-Uhr in der Nähe der Kathedrale wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und im Jahr 2000 rekonstruiert.

Jules Verne wurde Mitglied des Stadtrates, gestaltete ein prominentes Eckhaus und ging ausführlich mit seinem Hund spazieren. Und so ist das Haus von Jules Verne, längst ein Museum, heute eines der sehr unterschiedlichen Highlights von Amiens – neben Frankreichs größter Kathedrale. Moment, steht die nicht in Paris? Eben nicht. Sie heißt Kathedrale Notre-Dame, ihr Volumen toppt die gleichnamige in Paris um fast das Doppelte, sie steht mitten in Amiens und gehört seit mehr als 40 Jahren zum UNESCO-Welterbe. 

Und sie macht die positiven Seiten des extremen Zentralismus in Frankreich deutlich: dass, während alle Richtung Seine blicken, um diese Kirche nicht so viel Gewese gemacht wird. Vielmehr fließt statt der Seine der sehr unaufgeregte Alltag der rund 135.000 Amienser drum herum.

Das Macaron von Amiens bei Trogneux

Hier gibt es zahlreiche Süßspeisen. Sehr empfehlenswert: das Macaron von Amiens.

Direkt an ihrem Vorplatz befindet sich ein Café mit einer grandiosen Auslage hausgemachter Macarons, das ansonsten in der Aufmachung aber eher nüchtern wirkt. Feinstes Amienser Understatement für eine Manufaktur mit mehr als 150 Jahren Geschichte inklusive aktuellen Klatsch-Kapitels. „Trogneux“ steht über der Tür, das ist der Geburtsname von Frankreichs Première Dame. Sowohl Brigitte Macron, ehemals Trogneux, eine Tochter aus dem kleinen Süßwaren-Imperium, als auch ihr Mann Emmanuel Macron wurden in Amiens geboren. So auch 2016 die Bewegung „En Marche“, mit der die Macrons sich dann Richtung Paris und Élysée-Palast aufmachten.

Mindestens ein Macaron muss bei Trogneux probiert werden: das Macaron von Amiens, ein Mini-Kuchen aus Mandeln und Honig. Wirkt äußerlich im Vergleich zu seiner quietschbunten Macaron-Konkurrenz erst mal schlicht, hat es dann aber ganz schön in sich – und ist damit eigentlich eine gebackene Metapher für die Stadt, die für manch einen so unscheinbar auf der Landkarte wirkt und dann ganz schön auftrumpft.

Weitere Highlights in Amiens

Eile wird ausgebremst in Amiens – auch auf den insgesamt mehr als 60 Kilometer langen Kanälen der Hortillonnages.

Amiens hat nicht nur den jüngsten Präsidenten der französischen Geschichte, einen der meistübersetzten Schriftsteller und die größte Kirche, es hat vor allem jenseits aller Superlative auch das, was Jules Verne so Amiens-typisch, understatementmäßig mit „ausgeglichener Atmosphäre“ beschrieben hat: 30.000 der Menschen hier, also fast ein Viertel, sind Studierende. Dazu ist sehr viel Stadtfläche entweder sehr kleinteilig bebaut oder sehr grün. Und am Ufer der Somme, so heißt der Fluss durch Amiens, gibt es viele nette, kleine Lokale, gerne auch eins neben dem anderen. 

Nachvollziehbar, dass Jules Verne hier stundenlang mit dem Hund unterwegs war. Gut möglich, dass zu seiner Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, hier samstags bereits der Wochenmarkt an der Place Parmentier direkt am Flussufer stattfand. Er ist nicht groß, aber eines ziemlich sicher: absolut regional, genauer gesagt, lokal. 

Denn unweit davon liegen die schwimmenden Gärten von Amiens, hier „Hortillonnages“ genannt. Eine Fläche von 300 Hektar (größer als Monaco) besteht dort, im fruchtbaren Sumpfland der Somme, aus Grün-Parzellen und Kanälen. Sie bildet quasi den Obst- und Gemüsegarten der Stadt – und das wohl schon seit der Antike. Dort mit einer der Barken unterwegs zu sein, ist ein grandios ruhiges und langsames Amiens-Erlebnis. 

L’Art de Amiens: Lichtshows in der Stadt

Was Jules Verne und sein Hund wohl empfänden, würden sie heute im Sommer oder kurz vor Weihnachten im Dunkeln aus dem Grünen kommen und über den Vorplatz der Kathedrale von Amiens Richtung ihres Hauses laufen – und auf einmal ist es vorbei mit Ruhe und Understatement? Im Juli, August und Dezember inszeniert „Chroma“, eine Sound- und Lichtshow, die filigrane Fassade der Kirche als Farbspektakel mit viel Pathos. Der Platz füllt sich, für eine gute halbe Stunde ist richtig Wumms in Amiens. Und auch das steht dieser Stadt, die trotz alldem immer noch einer der wenigen Geheimtipps ist, ziemlich gut.