Zu Gast bei Franca Cuneo

An einem Ort, der mehr Hafen-Kiez nicht sein könnte, den nur eine Spuckweite trennt von der legendären Herbertstraße, über dem der Duft der Elbe zu erahnen und tagsüber die Schreie der Möwen zu hören sind, an diesem Ort öffnet sich an fünf Tagen die Woche eine rote Tür zu einem großen Versprechen: dass, auch wenn rundherum viel Substanz und viele Gewissheiten bröckeln, manches bleibt, wie es ist. Und dieses Versprechen hat einen Namen, der in weißen Leuchtbuchstaben schnörkellos-selbstbewusst über der Tür steht: Cuneo.
Das Cuneo in Hamburg: Ein Gesamtkunstwerk

Hinter der Tür wird es warm, das Licht honiggolden von alterslosen Lampen und Kerzen, die gerade erste Wachsstraßen über die Weinflaschen ziehen, in denen sie stecken. Der Abend ist noch jung, Franca Cuneo stellt zig schlichte Papp-Tischkärtchen auf die Bar, die Reservierungen für heute. Die Gäste drängen jetzt im Minutentakt durch den schweren roten Vorhang hinter der Tür. „Manchmal entscheide ich erst in dem Moment, wenn ich sie sehe, wo ich sie hinsetze“, sagt die Chefin, die sehr gut weiß, dass die Menschen nicht wegen des Vitello tonnato, der Ravioli oder des Tiramisu kommen. Sie kommen, um hier zu sein und ein Teil des Gesamtkunstwerks Cuneo zu werden. Und Franca ist die Regisseurin, sie findet in diesem Theater den passenden Platz für jeden. „Die Atmosphäre hier, das ist ein bisschen wie ein Bild malen“, sagt sie. „Manchmal stehe ich an der Jukebox, gucke mich um und denke: Guck mal, passt.“
Die Jukebox, die sie „mein Orchester“ nennt, duckt sich zwischen Eingang und Bar, von dort kann Franca ihr komplettes kleines Reich gut überblicken: den langen Raum, der sich in nun schon 120 Jahren mit Stimmungen, Legenden und Dramen aufgeladen hat, und den etwas tiefer gelegenen Nebenraum, der erst seit den 70er Jahren zum Cuneo gehört. Das Lied mit der Nummer 101 lässt sie ihr Orchester jeden Abend als Erstes spielen, „Genova per noi“ (Genua für uns) von Bruno Lauzi.



Die Cuneo-Geschichte
Genua ist die Stadt, aus der die Familie von Francas Vater Franco kommt. Es waren dessen Großeltern Francesco Antonio und Maria Cuneo, die Anfang des 20. Jahrhunderts den langen, damals mühsamen Weg nach Hamburg kamen, begleitet von zwei Äffchen, mit denen sie unterwegs auftraten. Ein Miniatur-Wanderzirkus, bepackt mit der Hoffnung auf ein gutes Leben, damit fing es also an, die beiden eröffneten hier in der Davidstraße einen Laden, „Weinhandlung und Destillation“ stand damals noch über der Tür. Gegessen wurde unten in der Küche. Ein Foto der Urgroßmutter mit den beiden Äffchen hat Franca noch, auch den Passierschein, mit dem der Urgroßvater einreiste, die erste Schankkonzession – die Cuneo-Geschichte ist gut dokumentiert.
Es ist Mittwochvormittag, Franca sitzt auf einem der Holzstühle auf ihrer Bühne und breitet auf einem der Holztische diese Geschichte aus. Sie war vormittags joggen, unten am Hafen. Und sie wird heute keinen Mittagsschlaf brauchen, weil das Cuneo mittwochs wie sonntags geschlossen hat. Seit bald 20 Jahren wohnt die Wirtin, die noch keine 50 ist und auch lange nicht so aussieht, ganz nah am Cuneo, wenn es dort spät wird, ist sie schnell zu Hause. Wobei nicht mehr gesetzt ist, dass es spät wird, „es kommt vor, dass ich um eins im Bett bin, das hätte es früher nicht gegeben“, sagt sie mit einer Spur Ungläubigkeit. Manches ändert sich eben doch. „Die Barhocker werden immer niedriger“, solche Details erzählt Franca sehr gerne. „Ihre Füße nutzen sich ab.“ Und früher habe es im großen Raum eine Raumtrennerwand gegeben. Aber das Körpervolumen der Gäste habe zugenommen und so sei diese Wand irgendwann dem Platz zwischen zwei Tischen gewichen. Viele Gäste müssen inzwischen aufpassen, dass sie sich nicht den Kopf stoßen, wenn sie die Treppe zu den Toiletten hinuntergehen.
„Dieses Lokal konnte nur hier so wachsen. Mit dem Hafen, in Hamburg“

Wer diese Gäste sind, da ist das Cuneo mit der Zeit gegangen. Ganz am Anfang waren es viele Arbeiter, die am Alten Elbtunnel mitbauten, das Cuneo wurde 1905 eröffnet, der Tunnel 1911. Als der Großvater hier Regie führte, waren es die Männer von den großen Schiffen, deren Ladung damals noch innerhalb von Tagen gelöscht wurde. Heute sind es oft nur Stunden, da bleibt keine Zeit für Kiez und Cuneo. Unter Franco Cuneo kamen Künstler und Journalisten, Kiezgrößen und Schauspieler, das Cuneo wurde Kult, dort Stammgast zu sein ein Statussymbol. Mancher Abend nahm kein Ende, so hat Franca diesen Laden kennengelernt. Dass viele Menschen heute nur noch vor dem Theater bei ihnen essen und danach manchmal direkt nach Hause gehen, lässt ihr mehr Schlaf, sie klingt aber auch ein bisschen wehmütig, als sie davon erzählt. Der Kiez ist nicht leiser geworden, aber viel Kult ist dem Kommerz gewichen. Das Cuneo ist dadurch nur umso kultiger geworden.
Der Kult hat eine Farbe, und die ist ein sattes Weinrot. Die Hauswand trägt es, auch die Innenwände damit zu streichen, war einst die Lösung von Francas Mutter gegen den Nikotinfilm. Als Franca übernahm, ging es mit dem Rauchen hier drin gerade zu Ende. Sie hatte hier in Hamburg Jura studiert und sie wäre gut vorstellbar als Anwältin, die ihr Gegenüber mit ihren glänzenden, kugelrunden Augen ins Visier nimmt und endlose Plädoyers hält gegen alles Ungute in dieser Welt. „Nein“, ruft sie mit lautem Lachen, sie habe nie ernsthaft vorgehabt, diesen Weg zu gehen. Sie wollte die Cuneo-Linie weiterführen. „Ich glaube, dass Traditionen vorbei sind, wenn du sie erst mal durchbrichst“, sagt sie. „Einen Laden, der so gewachsen ist, kannst du nicht zu- und wieder aufmachen. Und dieses Lokal konnte nur hier so wachsen – mit dem Hafen, in Hamburg. Die Hamburger sind in ihrem Hanseatischsein sehr tolerant.“ Und das Cuneo ist in seinem Italienischsein sehr hamburgisch. Die Menschen, so scheint es, geben auf ihrem Weg durch den roten Vorhang ihr Alter ab, ihren Status, alles, was Hypothek sein könnte, wenn ein Abend einfach das Leben feiert – begleitet von italienischer Hausmannskost.
„Mein Vater hat immer gesagt: ‚Der Laden hat ein gutes Karma‘“

Es gibt keine Pizza, keine Interpretation von irgendwas, es gibt die Klassiker: Minestrone alla Genovese, Penne all’arrabbiata, Ravioli alla zia Rosa, Fegato con burro e salvia und Tiramisu. Und wenn sich etwas ändert auf der Karte, dann, weil Menschen und die Zeit eben Spuren hinterlassen und Köche ihre Rezepte. Klar, manches passt nicht in jede Jahreszeit, für die Minestrone zum Beispiel ist es im Hochsommer einfach zu heiß. Aber sonst würde Franca gerade die nie von der Karte nehmen, so wie die Ravioli und die Kalbsleber. Kulinarische Konstanten. Und sie weigert sich auch, das Gemüse für diese würzige, mit deutlicher Schärfe versehene Minestrone von irgendwelchen praktischen Geräten zerkleinern zu lassen.
Weil sie an die Seele von Dingen glaubt. So wie die des schwarzen Telefons, das auf der Bar steht, dessen Hörer wirkt wie eine ausgewachsene Hantel und dessen Klingeln eine akustische Zeitreise ist. Es ist ein einzigartiges Teil, so wie jedes der zahllosen Fotos an der Bar und jedes der zahllosen Bilder an den Wänden und jedes Erinnerungsstück. Die Boxhandschuhe von Dariusz Michalczewski. Die Gemälde vom Jahrzehnte-Stammgast Bruno Bruni. Das Schildchen, auf dem schwungvoll „Famiglia“ steht und das seinen Stammplatz auf dem großen, runden Tisch hat.
„Mein Vater hat immer gesagt: ‚Der Laden hat ein gutes Karma‘“, sagt Franca. Und wenn es sein muss, verteidigt sie das. Als ein Mann eine Schauspielerin beim Essen störte und nicht aufhören wollte, sie auf ihre gerade öffentlich breitgetretene angebliche Porno-Vergangenheit anzusprechen, da habe sie sein Tischtuch genommen, es samt Essen und Getränken zu einem Bündel zusammengepackt, erzählt Franca. „Geht aufs Haus und da ist die Tür.“ Wer möchte bei dieser Szene nicht dabei gewesen sein?
Die Stammgäste haben irgendwann damit begonnen, sich selbst eine Rolle im großen Cuneo-Theater zu geben, alle paar Jahre, wenn wieder ein Jubiläum ansteht, übernehmen sie Küche und Service, so ist es inzwischen Tradition, seit das Cuneo 75. Geburtstag gefeiert hat. So auch am 3. Mai dieses Jahres, als der 120. Geburtstag ansteht. Da sieht man schon von Weitem einen bunten Menschen-Strauß vor der roten Tür. Drinnen wird die Improvisation gefeiert, die Stammgäste tragen weiße Hemden und stapelweise Teller voller Lasagne, Risotto und Tiramisu durch die dichter werdende Menge. Es wird gesungen und getanzt vor der Bar. Franco Cuneo läuft leise lächelnd durch das Theater, seine Tochter steht in einem rosa Leinenanzug mittendrin. Einen Teil der Regie hat sie abgegeben für heute, aber eines lässt sie sich nicht nehmen: jeden Gast persönlich zu begrüßen, die meisten zu umarmen, als würden auch sie zur Familie gehören.