Von Erlangen bis Lübeck: Die schönsten Straßen Deutschlands

Auf ihren Lesereisen hat es die Schriftstellerin Kristine Bilkau („Eine Liebe, in Gedanken“) schon in viele Ecken verschlagen. Und wenn sie einen Ort richtig ins Herz schließt, dann geht alles ganz schnell: Sie sucht sich eine Straße aus und beginnt, von dem Leben dort zu träumen. Hier tut sie das für uns – und nimmt uns mit zu den schönsten Straßen Deutschlands. Von Erlangen bis Lübeck, von Flensburg bis Leipzig: In all diesen Städten laden malerische Gassen, manchmal auch hübsche Kanäle, zum Schlendern und Staunen ein.
Auch interessant:
Die Bäckergasse in Lübeck

Einmal im Jahr, im Februar, findet hier die „Große Kiesau Literaturnacht“ statt. Das Besondere: Die Lesungen werden in Privathäusern veranstaltet. Die Leute lernen nicht nur Autor:innen und ihre Bücher kennen, sondern auch die Lübecker Menschen und ihre größeren oder kleineren Buddenbrook-Häuser. Davon gibt es einige in den Gängen und Höfen, etwa in der zauberhaft begrünten Bäckergasse. Sollte die Sache ernst werden und ich nach Lübeck ziehen, werde ich bei der Literaturnacht als Gastgeberin mitmachen, und es wird Marzipan ohne Ende für alle geben.
Die Mariengade in Flensburg

Man kann ja leider nicht mehrere Leben gleichzeitig führen, verschiedene Modelle ausprobieren. Aber gedanklich, immerhin, ist es möglich. In meinen Gedanken wohne ich zum Beispiel manchmal in Flensburg, in der Mariengade, nicht weit vom Hafen entfernt. Ich würde endlich Dänisch lernen, regelmäßig gegenüber ins „Det lille Teater“ gehen und mir dänische Aufführungen ansehen. Bis in den Herbst hinein würde ich mit dem Fahrrad zum Strandbad fahren und eine Runde schwimmen gehen – je kälter, desto besser. Mein Haus in der Mariengade wäre leuchtend rot angestrichen, schon von Weitem zu erkennen, und wer vorbeikommen möchte, muss Zimtschnecken aus der nahen Bäckerei mitbringen.
Die Süderholmstraße in Schleswig

Nach einer Lesung in Schleswig, Sommer, blauer Himmel, habe ich mir die Stadt angesehen und landete in einem Viertel, das mir vorkam wie aus einem Kindheitstraum: Fischerhäuser, deren Gärten bis an das Wasser der Förde reichten. An den Stegen lagen die Boote, die Netze hingen draußen zum Trocknen. Es war kaum 22 Uhr, doch überall war es still, niemand unterwegs. Fischer:innen müssen früh schlafen gehen, sagte ich mir und bewegte mich wie auf Zehenspitzen über das Kopfsteinpflaster. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser historischen Siedlung wohne, in einem der Gärten der Süderholmstraße sitze, mit Blick auf das glatte Wasser. Versprochen, auch ich würde abends leise sein.
Straßen am Karl-Heine-Kanal in Leipzig

Jedes Mal, wenn ich auf der Leipziger Buchmesse bin, beschließe ich: Sollte ich jemals aus Hamburg wegziehen, dann nach Leipzig. Gedanklich geplant ist das alles bereits: Ich würde, wenn möglich, in einer der Straßen am Karl-Heine-Kanal wohnen. Mehr als drei Kilometer verläuft der Kanal durch die Stadt, eine gute Strecke für lange Spaziergänge durch mehrere Viertel, in denen sich in Gedanken Wohnungen einrichten ließen. Aber meine eindeutige Lieblingsecke: der Abschnitt an der Endersstraße zwischen dem Wasserspielplatz und der Steintreppe, wo die Kanufahrer:innen vorbeigleiten und man unter den Bäumen sitzen kann.
Die Flatowallee in Berlin

Die vielen Seiten und Widersprüche, die ein Mensch in sich trägt, zeigen sich auch in Wohnfantasien. Eben noch habe ich mir vorgestellt, in einem Haus am Kanal alt zu werden, ein paar Tage später bin ich in Berlin, sehe in der Flatowallee das Corbusierhaus und denke: Dort möchte ich leben, am besten ganz oben. Vielleicht hat es mit der Sehnsucht zu tun, verschwinden zu wollen, mit dieser Vorstellung, sehr weit oben in einem Zimmer am Fenster zu sitzen. Hätte ich eine Wohnung im 17. Stock, würde ich das Vergnügen großzügig teilen. Es würden oft Gäst:innen kommen, um sich mit mir ans Fenster zu setzen. Allein zu verschwinden, das wäre doch nur der halbe Spaß.
Die Wasserreihe in Husum

November in Husum, das Wetter machte Theodor Storms Gedicht „Graue Stadt am Meer“ alle Ehre. Während ich durch den Nieselregen lief, dachte ich: Hier würde ich gern bleiben. In einem alten Haus, in der Nähe des Binnenhafens. Bei Sturm ist die tosende Nordsee nicht weit. Aber während es draußen kalt und neblig ist, sitze ich im Warmen und lese dabei eine wohlig-unheimliche Geschichte. Am liebsten natürlich in einem Haus in der Wasserreihe, nicht weit weg von dem mit der Nr. 31, wo Theodor Storm seine Geschichten für solche wohlig unheimlichen Abende geschrieben hat.
Theaterstrasse und Glockenstraße in Erlangen

Jedes Jahr im Spätsommer wird in Erlangen das „Poetenfest“ veranstaltet, mit Lesungen unter freiem Himmel im Schlossgarten. Als ich dort auftrat, habe ich mich in die Stadt verliebt. Es war warm, in den Straßen – wie diesen beiden, die ineinander übergehen – saßen Leute in den Cafés. Due Fensterläden an den Stadthäusern erinnerten mich an Frankreich. Der Eindruck war keine romantische Einbildung: Ende des 17. Jahrhunderts flüchteten Hugenott:innen aus Frankreich und konnten sich in Erlangen niederlassen. Der Bau ihrer Häuser beschleunigte die Entwicklung zu einer kulturell lebendigen Stadt, in der ich heute bestimmt gut leben könnte. Genauso wie in den anderen sechs Orten.