Lille: Charmante Kulturstadt in Frankreichs Norden

Die besten Waffeln Frankreichs? Kommen wohl aus Lille. Wenn ein Präsident sie sich aus der Stadt unweit der belgischen Grenze in den Élysée-Palast schicken lässt, müssen sie schon etwas Besonderes sein. Das tat Charles de Gaulle, der als Kind oft bei seinen Großeltern in Lille zu Besuch war – und Zeit seines Lebens den Waffeln der Confiserie Méert verfallen.
Vielleicht war dies seine Art, seiner Geburtsstadt die Treue zu halten. Dass Lille, oder „Rijsel“ wie es im Mittelalter hieß, einst die Hauptstadt der reichen Tuchmacherregion Flandern war, ist nicht nur daran zu merken, dass sie hier fantastische Waffeln backen und gern Bier trinken.
Flämisches Erbe trifft auf Start-up-Spirit

Erkennbar ist das auch an den Häusern der Altstadt, besonders gut am Place du Théâtre und an der Alten Börse aus dem 17. Jahrhundert. Die ist eines der Schmuckstücke Lilles, mit einem Arkadengang und einer Fassade im Stil der Flämischen Renaissance, verziert mit Girlanden und Füllhörnern aus Stuck. Nach dem Niedergang der Textilindustrie ab den 1960er-Jahren und dem Ende des Bergbaus war Lille eine arme Stadt.
Doch seit einigen Jahren geht es wieder bergauf, dank der Schnellzug-Anbindung an Paris, London und Brüssel ist Lille heute eines der größten Handelszentren und zweitgrößter Start-up-Hub Frankreichs. Auch die Universität Lille hat einen guten Ruf. Studierende machen gut ein Fünftel der mehr als 230.000 Einwohner von Lille aus.
Ein Spaziergang durch die verschiedenen Viertel ist heute eine Zeitreise: von der glorreichen Vergangenheit, verkörpert durch die Alte Börse, die Oper, das große Theater und die Rue Faidherbe, entworfen im Stil des Pariser Architekten Haussmann, bis in die Zukunft, die sich in dem vom niederländischen Architekten Rem Koolhaas gestalteten Handelsquartier Euralille materialisiert.
Streetart und Süßes in Wazemmes

Im Süden liegt ein Stadtteil, der aus der Zeit gefallen scheint: Wazemmes, mit seinen chinesischen Geschäften und arabischen Cafés ist das Gegenstück zu dem kühl durchdurchdesignten Euralille, aber auch zur eleganten Innenstadt. Dort treffen sich Arm und Reich, vor allem sonntags, wenn ein Flohmarkt fast das ganze Viertel einnimmt.
In dessen Zentrum steht die altehrwürdige Markthalle, mit Ständen für Fisch, Gemüse und Käse und der Bäckerei Maison Doucet, die für ihre kunstvollen Törtchen bekannt ist. Das Leben aber spielt sich sonntags draußen ab. Lilloises und Besucher der Stadt schieben sich an Hunderten Ständen vorbei, die quasi alles anbieten. Und dieses bunte Leben wird gerahmt von bunter Kunst: Wazemmes ist die Streetart-Hochburg von Lille.
Mit ihren vielen Graffiti hat die Stadt sich in der Kunstszene einen Namen gemacht. Einige der Werke sind drei, vier Stockwerke hoch, etwa das aus bunten Flächen bestehende Werk von Michaël Barek am Boulevard Jean Baptiste Lebas oder der Minenarbeiter von M-City, 100 Meter weiter in der Rue de Maubeuge. Erschaffen wurden sie mithilfe von Hubwagen bei Tageslicht, ganz offiziell anlässlich der Graffiti-Biennale BIAM. Die wird seit 2013 von der Künstlergruppe Collectif Renart und der Stadt veranstaltet, international bekannte Sprayer sind dabei.
Einmal, erzählt Julien Prouveur, der Direktor von Renart, hätten vier Künstlerinnen und Künstler über Nacht 200 Fische in der ganzen Stadt verteilt. Die Stadtverwaltung hat sie nicht entfernt. Das stilisierte Konterfei von Charles de Gaulle, das der Sprayer Mr. P an viele Wände Lilles gebracht hat, gilt sogar als inoffizielles Wahrzeichen der Stadt.
Lille, charmante Stadt der Gegensätze

Dank der gelungenen Zusammenarbeit ist Lille nun eine große Freiluftgalerie, bringt die Kunst zu den Menschen, lässt die lächeln, staunen oder rätseln: Ist der schwarze Riese mit dem Felsbrocken in den Händen nun ein Roboter, ein Taucher, soll es King Kong sein, wie ein Blogger vermutete? Es ist ein Grubenarbeiter, eine Hommage an die Vergangenheit der Bergbau-Region, verrät Prouveur. Wer genauer hinschaut, erkennt die Spitzhacke, die am Gürtel hängt.
Lille ist keine offensiv glamouröse Metropole, oft liegen Gegensätze nur eine Straße voneinander entfernt. Und genau sie machen die Stadt zu etwas ganz Besonderem. Noch mal zurück zur Alten Börse, in ihren Innenhof, an einem warmen Sonntag: Dann versammeln sich Paare, um Tango Argentino zu tanzen. Sogar aus Paris und Belgien reisen die Tänzer an, weil die Atmosphäre der Alten Börse so besonders ist. Am Rand stehen Neugierige, die die Musik angelockt hat und die jetzt mit ihren Handys filmen. Auf der Tanzfläche: Männer in feinen Hemden und Frauen in hohen Schuhen. Manche haben die Augen geschlossen, versunken in die Schritte und die Musik. Man möchte stundenlang zuschauen. Und noch ein bisschen länger in Lille bleiben.