Südtirol Wandern auf dem Hochpustertaler Dolomiten-Höhenweg
Der Pragser Wildsee in Südtirol glitzert neben dem Weg, wenn die Sonne durch die lockeren Wolken blinzelt, wechselt er die Farbe, von tiefem Smaragd- zu hellem Flaschengrün. Die Felswände, die am Ufer aufragen, spiegeln sich im Wasser, und aus dem Tal, das sich vom hinteren Ende des Sees in die Berge gräbt, ergießen sich Ströme von Kies, die als weißer Strand am Ufer münden. Es ist schön hier, keine Frage. Sehr schön sogar. Verweilen mag Tamara Lunger trotzdem nicht, im Gegenteil: Sie spurtet den Weg entlang.
Und so zieht der erste Höhepunkt unserer Wandertour an uns vorbei wie die Landschaft am Fenster eines ICE. Vielleicht muss das so sein, schließlich sind wir, der Fotograf Gregor und ich, nicht mit irgendeiner Bergführerin unterwegs. Tamara Lunger ist eine der besten Bergsteigerinnen der Welt. Sie hat als jüngste Frau den Achttausender Lhotse zwischen Nepal und China bestiegen. Bei Langstreckenrennen durch die Alpen ist sie stets unter den Schnellsten, und sie wandert durch die Dolomiten, seit sie laufen kann. So jemand muss ein anderes Tempo haben als wir.
Ziel der Wanderung: Von der Alm Plätzwiese bis zu den Drei Zinnen
Vom Pragser Wildsee, an dem Tamara gerade andere Ausflügler wie Slalomstangen hinter sich lässt, möchten Gregor und ich in die Berge hineinlaufen. Auf dem Hochpustertaler Dolomiten-Höhenweg wollen wir über die Alm Plätzwiese auf Gipfel steigen, dann das tiefe Tal durchschreiten, das die Pragser von den Sextner Dolomiten trennt. Wir wollen uns die berühmten Drei Zinnen aus der Nähe ansehen. Und eigentlich haben wir uns vorgenommen, uns für all das ausgiebig Zeit
zu nehmen, von nichts und niemandem getrieben zu sein.
Achttausender K2 bestiegen hat.
Wir biegen vom Rundweg um den See auf einen kleinen Pfad ab und sind mit einem Mal ganz allein. Aber Tamara wird nicht langsamer. Der Weg schlängelt sich durch ein Schotterkar, man möchte stehen bleiben, den Blick um 360 Grad schwenken, noch mal und noch mal auf den See blicken, der jetzt in seiner ganzen Schönheit hinter uns liegt, und auf die Hohe Gaisl, die sich wie ein versteinerter Sahnehaufen vor uns auftürmt. "Das Licht ist grad super, Tamara", ruft Gregor, und dass er jetzt Fotos machen möchte. Und innerlich rufe ich laut 'danke!'.
Auf dem Hochplateau begeistert ein Panorama wie auf einer Fototapete
Wir erreichen ein Hochplateau mit einem Panorama wie auf einer Fototapete: Weit in der Ferne stechen die Drei Zinnen in den Horizont, gleich vor uns liegen ein paar Kühe faul im Gras und kauen. Auf der Rossalm, ein Stück den Berg hinunter, ließe sich jetzt prima eine kleine Siesta machen. Doch Tamara will unten in Brückele den Bus erwischen. "Ich muss heute noch ein bisserl trainieren", sagt sie. Sie erwischt den Bus in letzter Sekunde – und da unser Plan sowieso vorsah, im Tal zu übernachten, springen wir mit hinein. Es ist erst Nachmittag, warum sollten wir uns nicht noch einmal den Pragser Wildsee angucken, diesmal ganz in Ruhe? Die Tagestouristen sind weg, die Stimmung gefällt auch Tamara so gut, dass sie das Training sausen lässt. "Ich bin noch nie gerudert!", ruft sie. Als wir mit dem Boot vom Verleih auf die letzten Sonnenstrahlen zusteuern, versucht sie es, zieht die Hölzer mit Tempo durchs Wasser – und schaufelt dabei eine Menge davon ins Boot. Ich übernehme und rudere uns langsam durch das Grün. Wir nehmen Fahrt auf, manchmal, denke ich, kommt man mit Ruhe besser voran.
Am nächsten Morgen erreichen wir nach kurzem Aufstieg den Gipfel des Strudelkopfs, dessen Kreuz auf 2307 Metern steht. Von dort oben geht es 900 steile Meter hinab ins Höhlensteintal, dahinter grüßen wieder die Drei Zinnen, heute etwas schüchterner. Sie hüllen sich in Wolken und zeigen mal zwei ihrer gigantischen Felsnasen, dann nur eine, dann wieder alle drei. Obwohl wir noch einiges an Weg vor uns haben, bleiben wir lange auf einem kleinen Felsabsatz am Gipfel hocken, gucken ins Tal und auf die Berge, die sich dahinter auftürmen. Wir teilen eine Tafel Schokolade und reden über Gott und die Welt und alles, was dazwischen sein könnte.
Der Weg ins Tal erfordert Konzentration
Für die erste Kuh und uns ist der Weg zur Dreizinnenhütte noch breit genug. Den nächsten vier Tieren können wir ausweichen – doch nach weiteren sieben geht nichts mehr. In einer endlosen Prozession trotten 99 Südtiroler Viecher dem Tal entgegen, wir haben sie nicht gezählt, der Senner hat es uns verraten. Wir sind in den letzten Tagen immer langsamer geworden, nun versetzt uns diese Herde fast in Zeitlupe. "Schneien wird’s in der Nacht, wir müssen runter!", ruft der Senner. Schnee? Im Sommer?
Das Ende des Tals sperrt eine Felsstufe mit einem Wasserfall ab, es beginnt zu tröpfeln. Gregor geht schneller. Als eine halbe Stunde später noch immer keine Hütte, sondern wieder nur eine weitere Felsstufe zu sehen ist, lasse ich ihn ziehen. Wie nass ich werde, ist mir egal. Ich lasse mir mein Tempo nicht mehr vorschreiben, von keiner Tamara, keinen Kühen, keinem Gregor und keinem Regen. Die Drei Zinnen tauchen vor mir aus den Wolken auf und verschwinden gleich wieder, als wollten sie mir zunicken und sagen: "Richtig so!" Als der Regen meine Jacke aufgeweicht hat, endlich: die Dreizinnenhütte.
Dreizinnenhütte: Früher Basislager für Erstbegehungen
Hugo Reider weckt mich wieder auf. Der 61-Jährige arbeitet als Anwalt in Bozen und betreibt diese Hütte. Sein Vater baute das Haus nach dem Zweiten Weltkrieg zum Bergsteigerstützpunkt aus, der Sohn wuchs zwischen Alpinisten auf, die die Hütte als Basislager für ihre Erstbegehungen nutzten. "Die haben wochenlang bei uns gewohnt – oder irgendwann vor der Tür gezeltet, wenn ihnen das Geld ausging", erzählt Reider. Später seien normale Bergsteiger gekommen, drei Führer waren engagiert, um sie auf die Gipfel der Umgebung zu begleiten. "Heute bleiben die meisten nur eine
Nacht und dann geht es weiter, so wie bei euch." Selbst hier auf 2438 Metern ist die Ruhe schnelllebiger geworden. Die Drei Zinnen faszinieren Reider, obwohl er sie schon sein Leben lang vor Augen hat. Wenn morgens der Frühstücksrummel vorbei sei, versinke er auf der Terrasse manchmal fast im Nirwana.
Infos zum Hochpustertaler Dolomiten-Höhenweg

Der Hochpustertaler Dolomiten-Höhenweg führt durch die Pragser und die Sextner Dolomiten.

Autor Moritz Baumstieger hat ihn zusammen mit einer der weltbesten Bergsteigerinnen, Tamara Lunger, erwandert.

Tamara Lunger, Jahrgang 1986, ist Profi-Bergsteigerin und lebt im Eisacktal. 2010 erreichte sie als bisher jüngste Frau den Gipfel Lhotse (8516 Meter).

Lunger bestieg am 26. Juli 2014 den Gipfel des K2 ohne künstlichen Sauerstoff und die Hilfe von Trägern. Autor Baumstieger hatte auf dem Dolomiten-Höhenweg teils Schwierigkeiten, beim Tempo der Profi-Bergsteigerin mitzuhalten.

Eine gute Wanderkarte ist jedoch unerlässlich auf dem Hochpustertaler Dolomiten-Höhenweg.

Profi-Alpinistin Tamara Lunger und Autor Moritz Baumstieger auf dem Hochplateau Walsche Platz in rund 2200 Metern Höhe.

Verdiente Pause auf der Rossalm. Serviert werden typischen Südtiroler Spezialitäten, Bergbauernprodukte und Grillspezialitäten.

Ein Stück Kanada im Norden Italiens: Der Pragser Wildsee ist ideal für eine gute Erfrischung, wärmer als 14 Grad wird das Wasser aber selten.