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Kultur

Industriekultur: Ruinen reloaded

Einst waren sie Sinnbilder stetig wachsender Industrien, heute befeuern sie immer neue gute Ideen: gigantische, stillgelegte Anlagen wie die Völklinger Hütte oder die Förderbrücke F60 in der Lausitz.

Text Tinka Dippel
Datum 07.11.2020

Wenn sich der Eifelturm in der Lausitz hingelegt und in die Länge gestreckt hätte, wenn ihm Arme gewachsen wären, die nach beiden Seiten in die Heidelandschaft greifen – an die Größe des stählernen Industrierelikts F60 käme er nicht heran. Selbst, wenn man das Pariser Wahrzeichen und das Ulmer Münster mit dem höchsten Kirchturm der Welt aufeinander stellen und daneben die F60 aufrichten würde, sie wäre höher. Eine der größten Arbeitsmaschinen der Welt war sie, vor fast 30 Jahren ging sie beim Ort Lichterfeld-Schacksdorf, 60 Kilometer nördlich von Dresden, in einen frühen Ruhestand. Ihr Name ist eine Kombination aus dem, was sie war, eine Förderbrücke, und dem, was sie leistete. Eine 60 Meter hohe Erdschicht konnte sie mit Hilfe zweier Riesenbagger beiseite schaffen, um ein rund zwölf Meter mächtiges Kohleflöz zugänglich zu machen.

»Man muss schon sehr bildhaft arbeiten, wenn man vermitteln will, dass die F60 in der Stunde 30000 Kubikmeter Erde befördert hat«, sagt André Speri, Geschäftsführer der F60 Concept GmbH, der Immobilienmakler war, bevor die Brücke sein Fulltime-Job wurde. Deshalb haben er und seine Kollegen, die Besucher über die Brücke führen, Gleichnisse wie dieses parat: Würde man ein Fußballfeld acht Meter hoch mit Erde auffüllen, entspräche das etwa der stündlichen Förderleistung der F60.

So wie sie da jetzt in der Landschaft ruht, 502 Meter lang, mit einer Spanne von 204 Metern, wirkt sie wie ein gigantischer Stahl-Dinosaurier in Lauerstellung. Die Zukunft, auf die sie lauern könnte, nimmt nach und nach Form an, die Vergangenheit zieht sich langsam zurück, der Strukturwandel ist in vollem Gange in der Lausitz, die sich vom Norden Sachsens hierher, in den Süden Brandenburgs, zieht. Vier Förderbrücken desselben Typs sind zwischen Cottbus und Görlitz noch im Einsatz, riesige Flächen werden nach wie vor abgetragen. Die F60 in Lichterfeld war die letzte, die in Dienst genommen und die erste, die wieder stillgelegt wurde. Am 5. Februar 1991 ging sie in Betrieb, 75 Millionen Kubikmeter Abraum später war am 30. Juni 1992 Ende. Der Braunkohletagebau war hier schon damals nicht mehr rentabel.

Was sich umso schneller rentierte, war das Comeback seines eindrucksvollsten Reliktes als Besucherattraktion. 25000 Menschen, so Berechnungen vor dem Neustart der F60 als Industriedenkmal, müssten jährlich kommen, damit sich die Sache rechnet. Im Jahr 2000, als die Brücke geöffnet wurde, waren es rund 65000. »Man schaut sich gerne spektakuläre Dinge an«, sagt André Speri. »Ob das nun ein Tagebau-Großgerät ist oder eine riesige Brücke oder das größte Hochhaus.«

Es ist die letzte Führung an einem Sommertag, zwei Männer, die in der Gegend mit dem Fahrrad unterwegs sind, begeben sich auf den rund 1,3 Kilometer langen Rundweg auf dem riesigen Stahlgebilde, außerdem zwei Familien. Ein kleiner Junge hat Höhenangst, nur mit viel gutem Zureden ist er bis zum Gipfel der F60 in fast 80 Meter Höhe zu bewegen. Von dort oben, wo einst der Abraum auf der anderen Grubenseite ankam, reicht der Blick weit in die flache Landschaft. Das ist eine Art, die F60 zu erleben, auf einer Tour in kleinen Gruppen.

Die andere Art: als Kulturort. So ist das bei vielen der alten Anlagen im Land, die im Wandel der Zeit ihre Bestimmung verloren haben – Kohle zu fördern, Roheisen zu produzieren. Sie bleiben nicht einfach nur stehen, sie werden neu bespielt, sind Kulisse für Festivals, Ausstellungen und alles, was unter den Begriff Event fallen kann.

Für manche Giganten entstehen sogar echte Maschinenparks, so ein Ort ist Ferropolis südostlich von Dessau. Dort stehen auf einer Halbinsel in einem der künstlichen Seen fünf riesige Anlagen, die ausgedient haben, darunter ein Eimerkettenbagger, ein Schaufelradbagger, ein Rampensäulenschwenkbagger. 

Viele der alten Industriestandorte tun sich zusammen, veranstalten lange Nächte der Industriekultur wie die »Extraschicht« im Ruhrgebiet, die sich eine Sommernacht lang durch 50 Standorte in 20 Städten zieht. Der Gasometer in Oberhausen, die Zeche Zollverein in Essen, die Zeche Zollern in Dortmund und viele mehr sind dann mit Lichtern und Klängen in Szene gesetzt, auf dem Programm steht so ziemlich alles – Street-Art, Konzerte, Theater, Comedy. Die Orte bilden auch Industriekultur-Routen, die F60 liegt auf der Energie-Route in der Lausitz und auf der Route der Europäischen Industriekultur.

Und auch an der alten Förderbrücke können sie nun eine Licht- und Klanginstallation einschalten, um die Wirkung der Kulisse bei Dunkelheit noch mit Spezialeffekten zu verstärken. Pyrogames, Lasershows, Konzerte und das Musikfestival »Feel« finden statt. Man kann sich vom höchsten Punkt abseilen oder auf einem ehemaligen Arbeitspodest in 60 Meter Höhe ein Dinner genießen. Es ist dem Engagement einer Handvoll Menschen zu verdanken, dass die Brücke stehen blieb, statt wie geplant aufwendig verschrottet zu werden. Und als das entschieden war, haben sich diese Menschen mit weiteren Engagierten, darunter Andé Speri, Industriedenkmäler im Land angesehen. Sie waren im Saarland und im Ruhrgebiet unterwegs, fanden vieles, was man ähnlich angehen kann, aber auch Unterschiede, vor allem, was die Verwurzelung der Industrieanlagen angeht. André Speri meint: »Die F60 hat man hier als Maschine gesehen, die nötig war, um die Kohle rauszuholen. Aber die Tradition, die etwa die Hütte in Völklingen oder die Zeche Zollverein in Essen haben, wo man über viele Jahrzehnte mit dem Objekt verbunden war und wo praktisch jede zweite Familie davon gelebt hat, die ist hier so nicht dagewesen.«

In Völklingen im Süden des Saarlandes roch, hörte und fühlte die ganze kleine Stadt die Eisenhütte mitten in ihrem Herzen. Manchmal knirschte sie den Völklingern sogar zwischen den Zähnen, wenn der ewige Staub sich durchs offene Fenster auf das Mittagessen gelegt hatte. 1883 wurde dort der erste Hochofen angeblasen, 1986 der letzte stillgelegt. Es gehen in der Stadt Geschichten herum von Menschen, die eine Weile nicht gut schliefen, weil der Lärm des Werks, der rund um die Uhr immer dagewesen war, so plötzlich aufhörte. Die Hütte war über rund 100 Jahre zu einem rostroten Gebirge herangewachsen, einer Skyline aus gigantischen Zylindern und dicken Rohren, die teils ineinander verschlungen sind und ganz oben geknickt, sodass sie wie riesige Dachfirste wirken. Ihr Erzschrägaufzug sieht aus wie eine mehrspurige Achterbahn. Was hier einst aus rein wirtschaftlichen Erwägungen entstanden ist, brilliert jetzt als einzigartige Kulisse.

»Das ist ja ein lebendiger Produktionsorganismus gewesen, der immer neu gewachsen ist – hier noch ein Rohr dran, da noch ein Teilbereich«, sagt Ralf Beil, der neue Generaldirektor der Hütte. »Für mich ist es ein Feld, wo nicht von vornherein definiert ist, was man damit machen kann. Die Hütte ist ein Abenteuer – im besten Sinne.« Anfang Mai 2020, es ist sein dritter Arbeitstag, Corona bremst gerade weite Teile des Kulturlebens, auch das jährliche Festival »Electro Magnetic« in Völklingen wurde abgesagt, doch aus Ralf Beil sprudeln von der Hütte inspirierte Ideen: »Ich warte schon auf den Moment, in dem eine Cellistin mitten im Hochsommer oben auf der Gichtbühne spielt. Wenn es nicht so zugig ist da oben, sondern einfach nur schön.« Von der Gichtbühne wurden die Hochöfen befüllt, sie liegt in 27 Meter Höhe. »Oder ein Saxofonist im Paradies.« Das »Paradies« liegt hinter der Skyline und ist ein Landschaftsgarten, der durch Wildwuchs und Landschaftsarchitekten rund um die einstige Kokerei entstanden ist. »Ich habe in meinem Kopf sehr viel Musik gehört, als ich hier zum ersten Mal durchgelaufen bin.« Ralf Beil ist ein Kunsthistoriker, der in alle Richtungen denkt, er war schon Direktor der Mathildenhöhe in Darmstadt und des Kunstmuseums Wolfsburg. Promoviert hat er über Lebensmittel als Kunstmaterial, auch Kochkunst würde er gerne mehr in die Hütte holen. Platz ist schier endlos, die Anlage misst um die 600000 Quadratmeter, die Strecke eines Rundgangs sieben Kilometer.

Mitte der sechziger Jahre, das Eisenwerk lief auf Hochtouren, arbeiteten 17000 Menschen in der Hütte, 6000 Tonnen Roheisen produzierten ihre sechs Hochöfen. Sie war auf der Höhe ihrer Zeit – mit dem Schrägaufzug, mit einer der modernsten und größten Sinteranlagen, in der Reststoffe recycelt wurden. Weil sie den technischen Stand dieser Hochphase erlebbar macht wie kaum ein anderer Ort und weil sie außergewöhnlich gut und vollständig erhalten ist, wurde die Hütte 1994 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen – als erstes Industrierelikt in Deutschland, 2001 folgte die Zeche Zollverein. Für das Saarland ist die Hütte so zum Leuchtturm geworden, zum Aushängeschild seines industriekulturellen Erbes. 

Ralf Beil sieht sein Aufgabenfeld entsprechend weit, er möchte sich um die Industriekultur in der ganzen Region bemühen, Kontakte auch über die sehr nahe Grenze nach Petite-Rosselle in Frankreich und Esch-sur-Alzette in Luxemburg intensivieren. Auch thematisch ist Industriekultur für ihn ein weites Feld, er definiert sie so: »Sie ist das, was die Menschen im Rahmen der Industrialisierung gemacht haben, um diese Welt aufzubauen – mit allen Folgen und Ursachen. Der Erhalt der Anlagen ist wichtig, die kritische Auseinandersetzung damit aber auch.« Dafür gewinnt Ralf Beil bald noch jede Menge Platz: Der alte Wasserhochbehälter aus dem Jahr 1918, einer der größten je gebauten Wassertürme, soll zum neuen Besucherzentrum werden. Eine weitere Millioneninvestition in die Hütte, die pro Jahr von fast einer Viertelmillion Menschen besucht wird.

Das »Electro Magnetic«, ein Street-Art-Festival und große Ausstellungen finden schon regelmäßig statt. Der neue Generaldirektor möchte die einstigen Arbeiter noch sichtbarer machen, möchte mehr Bezüge herstellen zu großen Themen, die an der Hütte andocken. »Wir haben die Aufgabe, diesen Ort von der Geschichte in die Zukunft zu tragen«, meint er. »Hier ist ein perfekter Ort, um über die menschengemachte Zukunft nachzudenken.«

So wie die Hütte waren viele der Industrieanlagen einst riesige Investitionen in die damalige Zukunft. Zurück in die Lausitz, wo man bei der F60 Ideen für eine neue Zukunft beim Wachsen zusehen kann: In Sichtweite der Brücke ist vor rund zehn Jahren ein Solarpark errichtet worden, es ist einer der größten des Landes. Windräder drehen sich am Bergheider See, der den Tagebau geflutet hat. Dieser See, benannt nach dem Ortsteil, der einst an seiner Stelle stand und dem Tagebau zum Opfer fiel, ist Teil einer vom Strukturwandel befeuerten Urlaubs- und Freizeitvision, das Lausitzer Seenland zieht sich von Hoyerswerda über Senftenberg bis Cottbus und wird immer größer. Der Bergheider See liegt etwas abseits, sein pH-Wert ist noch niedrig, das Wasser also noch relativ sauer, die Gastronomie und das Übernachtungsangebot sollen ausgebaut werden. Surfer und Kiter treffen sich aber auch jetzt schon gerne an seinem Sandstrand im Schatten der Brücke.

André Speri blickt optimistisch in die nächsten Jahre. »Wir haben jetzt in Lichterfeld überdurchschnittlich viele Baustellen von jungen Leuten, Familien, die Bauland kaufen, weil man hier einfach gerne lebt«, sagt er. Der See, die F60 und ihr Kulturprogramm haben dem Ort eine nie dagewesene Bekanntheit gebracht. Mehr als 1,5 Millionen Menschen haben ihn seit dem Wandel der Brücke besucht. »Die F60 hat inzwischen einen hohen Identifikationswert für die Einheimischen hier«, sagt André Speri. »Die Leute sind stolz darauf, dass dieses Ding hier steht. Es ist ein wichtiges, identitätsstiftendes Merkmal für die Region geworden. Zu Kohlezeiten war es das nicht.«

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